Es gibt Filme, die wirken auch nach einem halben Jahrhundert noch, als wären sie aus der Zeit gefallen, als hätte sie jemand gedreht und dann im Nachhinein entschieden: “Ach, nu sach mer mal 1947.” Die schwarze Narzisse gehört dazu. Obwohl der Film zutiefst britische Themen aufgreift, wirkt er wie viele Filme von Michael Powell und Emeric Pressburger zu modern, zu abgedreht für seine Zeit und doch sehr klassisch aus heutigem Blickwinkel. Mein Herz für Klassiker geht deswegen heute an Die Schwarze Narzisse aus dem Jahr 1947.
Warum ich Die Schwarze Narzisse mein Herz schenkte
Der erste Film von Regisseur Michael Powell und Drehbuchautor Emeric Pressburger (a.k.a. Powell & Pressburger), den ich gesehen habe, war Die roten Schuhe. Doch angefixt wurde ich durch Irrtum im Jenseits (A Matter of Life and Death). Wie das eben so ist an einer Uni, stolperte ich eines Abends in ein Screening, dessen Seminar ich gar nicht besuchte (es ging um Farbe im Film) und da lief das Meisterwerk der Archers (so der Name der Produktionsfirma von Powell & Pressburger). Daraufhin bestellte ich erst einmal die halbe Filmografie der beiden Herren, die zwischen 1943 und 1957 mehrere einflussreiche und vor allem sehr eigensinnige Werke zusammen schufen, bevor sie getrennte Wege gingen.
Darunter war Die Schwarze Narzisse, ein exotisch angehauchtes Psychodrama über ein abgeschiedenes Nonnenkloster im Himalaya. Zucht und Ordnung in Kombination mit der aufgezeheizten Atmosphäre der Fremde bekommen den Damen darin gar nicht gut, so dass es bald zu einer Konfrontation unter den Nonnen kommt. Diese nutzen Powell & Pressburger, um in satten Farben und einem geradezu fantastischen Setting die unterdrückte Leidenschaft zum Kochen zu bringen. Dass auch noch Deborah Kerr und die extrem junge Jean Simmons in diesem Nonnenthriller spielen, brach meinen letzten, verbliebenen cineastischen Widerstand, so dass ich Die Schwarze Narzisse prompt in mein Herz schloss.
Warum auch andere Die Schwarze Narzisse lieben werden
Zwar gab es 1947 noch keine Computer Generated Images, doch die Welt, die Powell & Pressburger in den Pinewood Studios erschufen, würde auch heute noch dem ein oder anderen Fantasy-Film gut stehen. Eingefangen von Kamera-Legende Jack Cardiff mögen die grünen Täler und blutroten Sonnenuntergänge in diesem Film nicht viel mit dem echten Himalaya zu tun haben, doch darum geht es gar nicht. Die Schwarze Narzisse kehrt wie so viele große Filme die seelischen Zerwürfnisse seiner Protagonistinnen nach außen und dementsprechend verzerrt und expressionistisch wirken die Landschaftsaufnahmen. Spürbar eingekerkert in den Höhen der Berge, werden die Frauen im Kloster mit ihrer Natur konfrontiert und was sie da sehen, ist nicht immer ein schöner Anblick.
So versucht die irische Schwester Clodagh (Deborah Kerr) im Kloster eine vergangene Liebe zu vergessen, nur um in der Abgeschiedenheit natürlich noch tiefer in den verbotenen Gedanken zu versinken. Ihre junge ‘Kollegin’ Schwester Ruth (Kathleen Byron) vereint in sich derweil all die unterdrückten Emotionen, die sich an diesem befremdlichen Ort angestaut haben. Zum Glück für uns Zuschauer wird kein Psychiater hinzugezogen, so dass Powell & Pressburger ihre Protagonistinnen immer weiter in die Labilität und damit in ein spannendes Finale treiben können.
Warum Die Schwarze Narzisse einzigartig ist
Die Filme von Michael Powell und Emeric Pressburger entziehen sich jedweden Strömungen oder auch nur spezifischen Traditionen des britischen Films. Sie bilden nicht nur das Gegenteil des gemeinhin als realistisch und sozialkritisch aufgefassten Kinos von der Insel, wie es durch die Ealing Studios und die British New Wave geprägt wurde. Die Archers sind schlichtweg eine filmhistorische Anomalie und Die Schwarze Narzisse ist ein sehr schönes Beispiel dafür. Anstatt sich in die schwarz-weißen Abgründe des Film noir der Nachkriegszeit zu flüchten, werden die seelischen Irrungen und Wirrungen der Nonnen in feinstem Technicolor auf der Leinwand präsentiert. Kein Wunder, dass ein gewisser Martin Scorsese sich als großer Fan von Powell & Pressburger geoutet hat.
Obwohl Die Schwarze Narzisse jedwedem stilistischen Realismus aus dem Weg geht und einige großartige Bilder psychischer Verzweiflung aufbietet, kann der Film trotzdem als Kommentar zum britischen Kolonialismus gelesen werden. Oder als Kommentar zur Situation der Frauen in der Nachkriegszeit. Oder als Kommentar zum Sinn und Unsinn katholischer Vorstellungen. Das ist ganz uns überlassen.
Warum Die Schwarze Narzisse die Jahrzehnte überdauerte
Filmtechnisch waren Michael Powell und Emeric Pressburger in mehreren Werken ihrer Zeit voraus: ob nun beim Stakkato-Schnitt und dem ausgesparten Duell in Leben und Sterben des Colonel Blimp, der Ping Pong-Sequenz in Irrtum im Jenseits oder den dynamischen Kamerafahrten und Spezialeffekten in Die Roten Schuhe. Die Schwarze Narzisse hält ebenfalls einige Überraschungen parat, die den Film moderner erscheinen lassen, als sein Produktionsjahr suggeriert. Dabei ist es besonders der Zwiespalt zwischen überstilisierten Berglandschaften und dem teils erstklassig umgesetzten Schein echter Drehborte, der zu außerordentlichen Szenen in “freier Natur” führt, etwa jene berühme, in der die Türen des Klosters aufgerissen werden, der Wind förmlich durchs Heimkino pfeift und am höllisch grünen Abgrund die Glocke geschlagen wird. Kurzum: Die Schwarze Narzisse ist in jeder Hinsicht eine Augenweide.