Ich streife durch die Nacht. Den aufmerksamen Blick immer in die dunkelsten Plätze lenkend, die abgelegensten Ecken der Stadt. Dieser großen, erdrückenden Metropole, die so tragisch anonym ist. Doch ich will ihre Geschichte erzählen, ihr wahres Gesicht ablichten. Ich bin Künstler, das ist meine Bestimmung, dazu bin ich berufen. Wenn andere schon schlafen, streife ich noch umher, immer auf der Suche nach dem besten Schuss. Keiner wie der, nach dem die lechzenden Junkies sich verzehren, das perfekte Bild muss es sein. Die Jugendlichen, die Kleinen, die Großen, die emsigen Arbeiter, das ist die Welt, das ist das Leben, das ist die Stadt, ich muss nur den Moment abpassen und es einfangen. Doch dieser Mann, ich habe ihn schon einmal gesehen. Wer mag er sein? Unauffällig hefte ich mich an seine Fersen, neugierig, wohin er mich führen wird, in welche Welten ich mich stürzen mag. Der Schlachter. Die Fabrik. Tiere hängen an Haken. Brutal zerstückelt und zu gesichtslosem Futter für die gefräßigen Massen verarbeitet. Am Fließband im Akkord barbarisch ermordet. Der versiffte Gestank des Blutes steigt mir in die Nase. Beinahe muss ich mich übergeben. Doch der Tod bedeutet Leben, beginnt, mich zu nähren, und ich wage mich weiter, immer weiter hinein in den Höllenschlund. Folge dem seltsamen Fremden und steige in den Zug.
Ich streife durch die Nacht. Jeden Tag dasselbe Lied. Ich warte. Warte geduldig und ruhig auf den letzten Zug. Meinen Zug. Mein Zug, der eigentlich nicht meiner ist. Er gehört ihnen. Die Arbeit im Schlachthaus, sie erfüllt mich nicht. Und auch wenn es des Nachts weitergeht mit dem Schlachten bin ich nicht erfüllt. Bin leer. Weiß selbst nicht mehr, wer ich überhaupt bin, wandle zu lange schon umher, nur um ihnen zu dienen. Ihnen das Fleisch zu servieren, es ihnen vorzukauen. Mein Hammer ist hart und erbarmungslos, wenn er seine Opfer trifft, ich bin schon lange leer. Ich bin der Herr über Leben und Tod und doch habe ich mich meinen eigenen Herren zu beugen. Ein falscher Schritt, eine unbedachte Bewegung und mit der Gunst ist es vorbei. Doch wer ist dieser Fremde, der, der mich zu verfolgen scheint. Erst in der Innenstadt, vor meiner Unterkunft sogar, und jetzt auf dem Bahnhof, wo ich wie immer warte. Weiß er es? Hat er es herausgefunden? Mein Geheimnis, meine Bestimmung. Ich darf nichts riskieren. Er darf es nicht verraten, sonst bin ich verloren. Seine Bilder, er darf sie nicht entwickeln. Und erst recht niemandem zeigen. Darf das Geheimnis nicht preisgeben. Zum Glück steigt er in den Zug ein. Der falsche Zug, für ihn, das richtige Abteil für mich. Ich greife nach meinem Werkzeug und stumm gehe ich meiner Arbeit nach. Denn dazu bin ich da. Der ewigen, endlosen Arbeit, die mich so sehr schon ermüdet und heimtückisch langsam auffrisst. Doch ich muss es tun. Ich bin der Henker.
Ich streife durch die Nacht. Ich glaube, ich habe ihn verloren. Er scheint sich nicht mehr für mich, nur noch für seine Kamera zu interessieren. Die Bilder sind ihm wichtiger als gemeinsame Schnappschüsse. Er ist so abwesend. Steigert sich in seinen Wahn, verfällt der Obsession. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Und wer ist der Mann, von dem er ständig spricht? Eine flüchtige Bekanntschaft, eine kurze Affäre nur, oder steckt Gott weiß was dahinter? Ich versuche, ruhig zu bleiben, aber jetzt ist es passiert. Er ist verschwunden, nicht mehr aufgetaucht aus dem Untergrund des Molochs dieser verkommenen Stadt. Hat er mich verlassen oder wurde er verschluckt von der Dunkelheit, die ihn kürzlich einzunehmen schien. Ich weiß es nicht, befürchte schlimmstes. Doch dann erkenne ich, nur nicht rechtzeitig genug. Zu spät verstehe ich, dass er die Wahrheit kannte, und ich wollte ihm nicht glauben. Aber ich werde es wiedergutmachen. Ich werde ihn retten, ihn befreien. Furchtlos schärfe ich meine Waffen und mache mich auf den Weg. Ich werde ihn finden, ihn mir zurückholen, ihn aus dem Abgrund befreien, koste es was es wolle.