Ein Tatort als nüchterner Tritt in die Weichteile

28.05.2012 - 21:45 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Kommissar Flückiger jagt einen Skalpell-Mörder
SF/ARD
Kommissar Flückiger jagt einen Skalpell-Mörder
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Der erste Tatort aus Luzern war ein Reinfall. Dass sich der Schweizer Reto Flückiger nicht vor den deutschen Kollegen verstecken braucht, beweist nun sein neuer Fall über Chirurgen, die Gott spielen und Kinder, die in der falschen Haut gefangen sind.

Obwohl die Mordwaffe in Sachen Symbolgehalt und Praktikabilität ein wenig lächerlich ist, geleitet uns Reto Flückiger (Stefan Gubser) in seinem zweiten Fall sanft, aber bestimmt in die Sommerpause. Tatort: Skalpell erfindet das Krimirad nicht neu. Mit einer stimmigen Bildsprache und einem bis zum Ende durchdachten Fall rund um ein sensibel aufbereitetes Thema ist dieser Tatort aus Luzern ein gelungenes Bewerbungsgespräch für weitere (Sonntags)Krimis aus der Schweiz.

Lokalkolorit: Die zum Segeln einladende Natur bekommen wir im neuen Tatort aus Luzern eher selten zu sehen. Wesentlich präsenter sind kalte, in Stahlbeton gegossene Wände, Gitter und andere erdrückende Elemente, die den Raum zusammenstauchen und ein Gefühl der Bedrängnis aufkommen lassen. Zwar können wir im Krimi das Gefühl nur erahnen, in einem fremden Körper gefangen zu sein. Vom Tatort-Einheitsbrei hebt sich der zweite Luzerner Streich durch seine visuell düstere Konsequenz dennoch ab. Es gibt schließlich genug Problemkrimis, die nicht einmal genug Geduld für ihre ach so gesellschaftskritischen Themen aufbringen, um sie auch audiovisuell zu verarbeiten. Ein Gruß geht an dieser Stelle nach Leipzig und Ludwigshafen.

Plot: Charity ist tödlich. Bei einem Solidaritätslauf fürs Kinderhilfswerk wird ein Klinikleiter und angesehener Arzt tot aufgefunden. Vom Liebhaber der Ehefrau weitet sich der Kreis der Verdächtigen recht schnell aus. Flückiger (Stefan Gubser) und seine neue Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer) stoßen auf Details, die am Image des Chirurgen kratzen. Der hatte bei der Behandlung von Hermaphroditen, Kindern ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale, viel zu früh zum Skalpell gegriffen. Noch Jahre später litten seine Patienten unter dem willkürlich aufgezwungenen Geschlecht. Auch die Schwester von Flückigers Kollegin Brigitte ist so ein Fall. Sie nimmt sich das Leben. So sind es schließlich Eltern eines Opfers, die zur Selbstjustiz und Armbrust mit Skalpellgeschossen gegriffen haben.

Unterhaltung: Etwas steif und blass wirkt Flückiger auch in diesem Fall. Vielleicht täte ein Blick auf sein Privatleben, seine Macken und Eigenheiten mal ganz gut. Andererseits ist so ein Tatort, in dem der Fall mitsamt seines brisanten Themas im Mittelpunkt steht, auch mal eine Erleichterung. Einen Ausnahmekrimi müssen die Schweizer für Luzern erst noch drehen. Dafür wurde mit diesem ernsten, äußerst nüchternen zweiten Fall ein guter Grundstein gelegt. Es wird sich zeigen, ob das neue Team Flückiger/Ritschard auch leichtere Unterhaltung meistert oder ausschließlich für die harten Themen gebucht wird. Die verhandeln sie schon jetzt eleganter als einige deutsche Konkurrenten. Selten wurde im deutschen Fernsehen außerdem ein Tritt in die Weichteile derart würdevoll heruntergeschluckt, wie es hier bei Flückiger der Fall war. Vielleicht ist so ein no-nonsense Kommissar ein notwendige Abwechslung.

Tiefgang: Dass sich Tatorte gern à la SternTV höchst schockierende Stoffe heraussuchen, um drumherum Handlungen voller Mord, Totschlag und Currywürste zu stricken, ist weithin bekannt. Insofern bleibt es überraschend, dass sich Tatort – Skalpell nicht wie solch ein Autopilot-Fall anfühlt. Manchmal klischeehaft, aber selten oberflächlich scheut das Drehbuch sich nicht vor komplexeren Fragestellungen. Anstatt nur dem Chirurgen die Schuld zu geben, hinterfragt der Krimi in beiläufiger Manier gängige Geschlechterbilder, die durch unsere Sprache in teils diskriminierende Bahnen gelenkt werden. Zudem wird auch vor den Eltern der betroffenen Kinder nicht Halt gemacht, die zu frühe OPs schon mal abnicken, die Bedürfnisse ihres Kindes totschweigen oder die Willkür mit Hilfe einer unpraktischen, aber symbolisch aufgeladenen Waffe umkehren.

Mord des Montags: Der tote Arzt im Wald mag ein veritabler Mord sein, das Kind, das sich in der Badewanne umgebracht hat, verdient mehr Aufmerksamkeit.

Zitat des Sonntags: “Sie sehen nur ihren Schmerz und das gibt ihnen jedes Recht.”

Ein okayer Zweitling aus Luzern, der durch seine Sachlichkeit überzeugt, war das meiner Meinung nach. Aber wie hat euch der letzte Tatort vor der Sommerpause gefallen?

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