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Die unsichtbaren Komponenten des Schreckens

20.10.2014 - 14:28 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Sieben macht den Zuschauer zum Regisseur.
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Sieben macht den Zuschauer zum Regisseur.
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Kein Grauen ist so groß wie der Schrecken, den eine lebhafte Fantasie hervorrufen kann. Gute Filme dürfen nicht nur auf der Leinwand oder dem Fernseher stattfinden. Gute Filme müssen sich in den Köpfen der Zuschauer abspielen!

Viele Regisseure versuchen düstere und beängstigende Thriller zu inszenieren. Plump eingesetzte Stilmittel, lächerliche Klischees und der Hang zu überzogenen Gewaltdarstellung sorgen jedoch dafür, dass es in diesem Zusammenhang ein massives Ungleichgewicht zwischen guten und schlechten Filmen gibt. Es rebellieren nur selten qualitativ hochwertige Filme wie Sieben, Saw oder 8MM - Acht Millimeter (Spoilerwarnung für alle genannten Filme) gegen die schier unüberwindbare Vorherrschaft ihrer qualitativ schwächeren Artgenossen. Es stellt sich an dieser Stelle natürlich die Frage, was die genannten Filme so deutlich vom Rest des Genres abhebt. Die Antwort ist einfach: Sie beziehen den Zuschauer und seine Vorstellungskraft stark mit ein.

Die Drecksarbeit dem Publikum überlassen

Die Vorstellungskraft des Zuschauers hat ein gewaltiges Potenzial. Es handelt sich leider um ein Potenzial, das häufig weder erkannt, noch berücksichtigt wird. Es reicht häufig aus, dem Zuschauer ein paar Informationsschnipsel zu geben. Er ist durchaus in der Lage, sich ein eigenes Bild von einer Situation oder einer Person zu machen. Ein gutes Beispiel ist hierfür der Film Sieben (David Fincher). Sieben überlässt dem Zuschauer an zwei entscheidenden Punkten die Freiheit, seine Vorstellungskraft zu nutzen. Fincher zeigt dem Zuschauer lediglich die Tatorte der im Film verübten Mordserie. Diese Tatorte werden im Verlauf des Filmes sehr gründlich begutachtet. Es werden zitternde Zeugen befragt und stark verstümmelte Opfer untersucht. Die Morde an sich werden jedoch der Fantasie des Zuschauers überlassen. Die vorhandenen Informationsschnipsel reichen vollkommen aus, um sich die perfideste Mordserie der Filmgeschichte bildhaft auszumalen. Es ist nicht nötig, die Taten zu zeigen, da sie sich in den Köpfen der Zuschauer abspielen; und das grausamer und schrecklicher, als es ein Regisseur je inszenieren könnte. Einen ähnlichen Effekt erzielt Joel Schumacher mit seinem Thriller 8MM - Acht Millimeter. Der in diesem Thriller thematisierte Snuff-Film wird dem Zuschauer nicht gezeigt. Statt ein perverses Mordvideo zu zeigen, richtet sich die Kamera auf den Privatdetektiv (Nicolas Cage), der gezwungen ist, sich das Video anzusehen. Die Reaktion dieses Protagonisten und winzige Bildfragmente des Snuff-Streifens reichen vollkommen aus, um vor dem inneren Auge des Zuschauers den Film entstehen zu lassen. Auch im weiteren Verlauf des Thrillers wird darauf verzichtet, das Video zu zeigen. Es ist äußerst wichtig, den Zuschauer nicht seiner persönlichen Version des Schreckens zu berauben. An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass die Serie „Hannibal“ durch die gelungene und kreative Inszenierung ihrer Tatorte häufig an die Fantasie ihrer Zuschauer appelliert. Es gibt neben der Inszenierung von Mord und Totschlag noch andere Aspekte, die ein guter Thriller-Regisseur dem Publikum überlassen sollte.

Szenen als personifiziertes Erlebnis

David Fincher überlässt dem Zuschauer mit „Sieben“ wesentlich mehr als nur die bloße Inszenierung der Morde. Fincher überlässt dem Publikum sogar den Mörder. Über weite Teile des Filmes bleibt der Mörder ein gesichtsloser Unbekannter. Erst gegen Ende des Filmes offenbart er sich den ermittelnden Detectives David Mills (Brad Pitt) und William Somerset (Morgan Freeman). Der Zuschauer wird an diesem Punkt der Geschichte seiner optischen Vorstellung des Killers beraubt, aber es gibt vieles, das er sich selbst ausmalen kann und muss. Viele Thriller kauen dem Publikum mittels einer Flashback-Sequenz die Beweggründe, die Vorgeschichte und das Weltbild des Mörders vor. Sieben überlässt dem Zuschauer den Killer in Form eines unvollständigen Puzzles. Die vorhandenen Stücke des Puzzles wie beispielsweise der Inhalt seiner Wohnung, der Stil seiner Handschrift oder der Grad seiner Bildung liefern gerade ausreichend Informationen, um sich ein grobes Bild von diesem Menschen zu machen. Der Rest bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Jeder Zuschauer erschafft seine eigene Version des Killers. Eine große Informationsfülle würde lediglich das Bild des bedrohlichen Mörders entmystifizieren. Saw lässt die Zuschauer mit einem vergleichbar unvollständigen Bild des Killers zurück, doch im Verlauf der Serie wird das einstige Mastermind des ersten Teils zu einem traurigen und bedauernswerten alten Mann degradiert. Neben dieser Kritik sollte die Saw-Reihe aber für ein anderes Element gelobt werden. Die eingespielten Videos, in denen die „Saw-Puppe“ die gestellten Fallen erklärt, kurbeln die Fantasie des Zuschauers sehr stark an. Die abstrakte Schilderung der „Umgekehrten-Bärenfalle“ funktioniert in diesem Zusammenhang als glänzendes Beispiel. Der Zuschauer malt sich aufgrund der Schilderung in den buntesten Farben aus, was passieren wird, wenn die Zeit abläuft und die Falle ihren Dienst tut. Problematischerweise wird dem Zuschauer dieser Freiraum im Verlauf der Reihe entrissen. Die Gewalt wird dem Publikum spätestens ab dem dritten Teil der Serie so offen ins Gesicht geschmettert, dass für die Vorstellungskraft kein Platz mehr übrig ist.

Abschließend kann gesagt werden, dass ein guter Thriller in mancher Hinsicht lediglich Fragmente liefern sollte. Der Zuschauer ist durchaus selbst in der Lage, bei den unsichtbaren Komponenten des Schreckens den Regiestuhl zu übernehmen.

Auch im Kinosaal sollte es immer eine ordentliche Portion Kopfkino geben!

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