Dear White People verdient keinen Boykott, sondern Zuschauer

04.05.2017 - 09:40 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Dear White People
Netflix
Dear White People
7
16
Dear White People ist die bisher umstrittenste Serie von Netflix und das aus durch und durch bescheuerten Gründen. Dabei ist sie eine der besten Eigenproduktionen des Streaming-Dienstes.

Wer dachte, der Gipfel des Fremdscham-Petitionismus in der Popkultur sei mit dem angedrohten Boykott von Rogue One: A Star Wars Story oder der erwünschten Schließung von Rotten Tomatoes erreicht, sollte Dear White People googlen. Nicht den drei Jahre alten Spielfilm gleichen Namens, wohlgemerkt. So viel Aufmerksamkeit kommt einem Indie-Darling heutzutage dann doch nicht zu, leider eigentlich, in diesem Fall wohl zum Glück. Als Netflix Justin Simien engagierte, um seine Filmsatire zur Serie auszuweiten, war der Sturm der Internet-Kommentare im ideologischen Spektrum irgendwo zwischen Bill O'Reilly und dem schmelzenden Geist von Arnold Toht perfekt. "Dear White People" könne nur die Vollendung der "liberalen Agenda" sein, diese drei Worte können nur Rassismus gegen Weiße versprechen. Damit stellte Dear White People die absurde Radikalisierung des Diskurses über die Gleichberechtigung von Minderheiten in den USA bloß - bevor die erste Klappe fiel. Seit vergangenem Wochenende können wir die Serie selbst sehen. Einmal mehr zeigt der Streaming-Dienst ein besseres Händchen bei Comedyserien als bei Dramen. Dear White People gehört nämlich zu den besten Eigenproduktionen von Netflix.

Dear White People

Ihr müsst den Kinofilm von Justin Simien nicht gesehen haben, um das Serien-Sequel nachzuvollziehen. Die ersten zehn Minuten der Serie führen in Setting, Handlung und Figuren ein, sodass Folge 1 schnell zum Wesentlichen kommen kann. Samantha "Sam" White (Logan Browning) studiert an der fiktionalen Winchester University. Ivy League-Institutionen wie Harvard oder Dartmouth bilden das Vorbild, auch was die Zusammensetzung der Studentenschaft angeht. Die ist mehrheitlich weiß. Sam und ihre Freunde sind schwarz und ihre Erlebnisse als Minderheit auf dem Campus verarbeitet Sam in der Radioshow Dear White People. "Dear White People", fragt sie sinngemäß, wie kann es sein, dass die Facebook-Seite einer College-Zeitung zu einer Blackface-Party aufruft, aber statt einer entrüsteten Menge nur schwarz geschminkte Partygänger vor der Tür stehen?

Sams Ansprachen in die Lautsprecher der Uni haben keine Zeit fürs nachsichtige Tätscheln aufs weiße Köpfchen (beim nächsten Mal bitte weniger rassistisch, ja?). Die Blackface-Party bildet deswegen das dramaturgische Bindeglied zum Film und Ausgangspunkt der Serie. Geschickt gruppiert Showrunner Justin Simien die wichtigsten Figuren der Serie um diesen rassistischen Eklat. Da wäre der ehrgeizige Charismatiker Troy (Brandon P Bell), der vom Seminarraum direkt in die Politik aufsteigen möchte, oder besser, sein Vater will das. Er könnte das System von innen heraus reformieren. Troys Mitbewohner Lionel Higgins (DeRon Horton), nerdiger Außenseiter mit dicker Brille und Afro, versucht über die College-Zeitung seine eigene Stimme zu finden und versteht sich als neutraler Mittler. Troys Affäre Colandrea "Coco" Conners (Antoinette Robertson) glaubt, in den Reihen ihrer weißen Freundinnen endlich Anerkennung gefunden zu haben und wird der Assimilation bezichtigt. Der Aktivist Reggie Green (Marque Richardson) hingegen sucht in der offenen Herausforderung die Verbesserung der Situation. Sam wiederum steht irgendwo dazwischen und wird ebenso wie die anderen in ihrer ganzen Unsicherheit über ihr Selbstbild skizziert. Nicht zuletzt wegen ihrer Zuneigung zum sehr weißen und sehr nach einem How I Met Your Mother- oder Scrubs-Erzähler aussehenden Gabe Mitchell (John Patrick Amedori).

Anders als im Film verfügen diese Figuren in der Serie über genügend Spielraum, um sich zu lebenden, atmenden Menschen weiterzuentwickeln. Die allerdings frönen - ganz wie im Film - ihrem herrlichen Hang zu Wortspielen, Popkulturreferenzen und verwortspielten Popkulturreferenzen. Selbst wenn man nicht in der Unfallhistorie von Sängerin Brandy versiert ist, begeistert der sprachliche Esprit der Dialoge, die manches Bonmot bereithalten (und "Wokemon Go" hat hoffentlich jemand getrademarkt). Ein paar offene Parodien gibt es auch, allen voran das wöchentliche Public Viewing von Defamation, in der der erschauernden Oberlippe von Kerry Washington in Scandal Tribut gezollt wird. Das Referenztennis wirkt nichtsdestotrotz athletisch und elegant. Es ist eine gemeinsame Sprache. Deren ironischen Brechungen müssen gelegentlich von den Figuren überwunden werden, um zur Aufrichtigkeit vorzudringen. Doch sie verhindern, dass die Serie in eine Predigt abdriftet.

Dear White People

Die einzelnen Folgen konzentrieren sich jeweils auf die Perspektive einer Figur. Das erinnert zunächst an Tote Mädchen lügen nicht, allerdings bleibt diese Struktur in Dear White People deutlich flexibler und weniger vorhersehbar. Immer wenn man als Zuschauer glaubt, eine Figur erfasst und ihre Charakteristiken festgenagelt zu haben, verschiebt die Serie ihre Perspektive, manchmal nur minimal, um unser Bild in Frage zu stellen. Am besten gelingt das bei Antoinette Robertsons Coco, der gefallsüchtigen Aufsteigerin, die sogar bei der besagten Blackface-Party mittanzt. Gerade wenn sich die "8 Blickwinkel" von Dear White People zu erschließen scheinen, variieren die Autoren die Erzählweise. Ein Flashback zu Cocos Kindheit, ein abfälliger Satz über eine schwarze Barbie-Puppe, steht am Anfang einer Erzählung über eine schmerzhafte Wandlung. Dabei werden die politischen Motivationen der Studenten (oder ihre Abwesenheit) stets in zutiefst menschliche Bedürfnisse eingebettet. Diente Dear White People im Kino als Polemik, erweitert die Serie deren Petrischalenwelt um eine vielschichtige Darstellung von und Auseinandersetzung mit afroamerikanischen Identitäten.

Sam, Troy und die anderen kämpfen damit, was viele junge Menschen herumtreibt, nämlich der Etablierung ihrer eigenen Identität gegenüber Fremdbestimmungen, ob von den Eltern, Freunden oder ihrer Herkunft. Und doch ist Dear White People nicht ohne Weiteres mit dem Stempel "universell" zu den Akten zu legen. Justin Simien und seine Autoren erzählen gerade keine universelle Geschichte, ebenso wenig wie Barry Jenkins und Tarell McCraney für Moonlight in den Sozialbauten von Miami eine suchten oder Donald Glover in den Clubs von Atlanta. Die Erfahrungen der schwarzen Studenten in Winchester unterscheiden sich fundamental von jenen der weißen, egal ob sie dieselben Kurse belegen oder bei YouTube das neuste Kendrick-Video anschauen. Das zeigt die Serie am bewegendsten in Kapitel V, das von Barry Jenkins inszeniert wurde, und das hier nicht gespoilert wird. In zehn halbstündigen Episoden betrachten die Autoren die Gründe für diese Diskrepanz, in dem sie die Lupe auf ein paar Studenten irgendwo in den USA halten. Damit konvertiert Dear White People nicht von der Komödie zur trockenen Sozialstudie oder Protestaufruf. Dogmatik liegt Simien fern.

Viele einstündige Netflix-Dramen, ob die von Marvel, im britischen Königshaus oder einer Highschool des Grauens, leiden unter ihrer eigenen Länge. Sie knarzen heftigst unter dem Gewicht des Drama-Siegels und des damit verbundenen Prestiges. Das halbstündige Comedy-Format bietet hingegen den Rahmen für eine durchweg kraftvolle wie spritzige Ensemble-Story, die am Wochenende weggesuchtet werden kann. Das "Dear" des Titels drückt sich indes durch wiederholte Blicke in die Kamera aus. Je nach Episode bringen diese Blicke - der direkte Kontakt zum Zuschauer sozusagen - andere Kontexte mit, lassen sich je nach Augenpaar unterschiedlich deuten. Sam, Troy, Coco und Reggie leben in einer Gesellschaft, die sie noch immer vielfach über die Schattierungen ihrer Hautfarbe definiert. Die Serie zelebriert ihren umwerfenden Facettenreichtum.

Habt ihr schon bei Dear White People reingeschaut?

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News