The Wire - Baltimores Zerfall in fünf Akten

30.11.2017 - 09:45 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
The WireHBO
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Keiner Serie gelingt es so gut, die Schattenseiten einer Gesellschaft so transparent darzustellen wie The Wire. David Simon erklärt den sozialen Zerfall einer Großstadt am Beispiel von Baltimore.

Wer sich zum ersten Mal The Wire ansieht, wird von seiner Verwobenheit regelrecht erschlagen. Es gibt so viele verschiedene Charaktere, so viele Erzählstränge und so viele Details, dass man sich von Anfang bis Ende auf die Serie einlassen muss, um nicht komplett den Anschluss zu verlieren. Dabei ist es hilfreich, sich vom Gedanken zu verabschieden, dass eine Serie eine klassische Hauptfigur haben muss. Denn in The Wire ist nichts klassisch. Auch wenn das Narrativ Polizist-gegen-Krimineller schon unendlich oft erzählt wurde, ist David Simons Epos einzigartig. Der Zuschauer braucht Geduld, denn The Wire ist nicht wie andere Polizei-Serien etwas für zwischendurch. Im Gegensatz zu anderen Serien des Genres, kaut The Wire dem Publikum nicht innerhalb einer Stunde vor, wie die heldenhafte Polizei binnen kürzester Zeit mit Leichtigkeit einen komplexen Fall nach dem anderen löst.

Das will ich als Zuschauer auch gar nicht, da die Serie das echte Leben zeigt. Ich fieberte gleichermaßen mit den Polizisten wie mit dem Drogenring mit, dessen perfekt ausgearbeitete Hierarchie mir oft den Atem raubte, da es schier unmöglich für die Detectives scheint, einen der Bosse zu Gesicht zu bekommen. Die Seite der Polizei bietet mit Officer James McNulty (Dominic West) und Bunk Moreland (Wendell Pierce) großartige Charaktere, aber Baltimores Unterwelt steht dem mit Omar Little (Michael Kenneth Williams) und Stringer Bell (Idris Elba) in nichts nach. Wieso sollten wir uns also auf einen menschlichen Protagonisten einigen, wenn wir ganz Baltimore mit seinen zahlreichen Facetten haben können?

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Über fünf Staffeln erzählt uns Schöpfer David Simon gemeinsam mit Co-Autor Ed Burns in einer Art Biopic, was in Baltimore schiefgeht - und das ist wirklich viel. Von Staffel zu Staffel wird ein neues dunkles Kapitel in der Geschichte der Stadt aufgedeckt. Zu Beginn geht es lediglich um den Krieg gegen die Drogen und die Korruption der örtlichen Polizei. Aber der Handlungsbogen breitet sich später auf die Hafenarbeiter, die miserable Wirtschaft und die korrupten Gewerkschaften aus, die die Einfuhr der Rauschmittel in die Stadt erst ermöglichen. Wir lernen viel über die verkorksten Politiker und begleiten Baltimores Jugend in die Schule, von wo aus Verzweiflung und Gewalt sie direkt wieder in die Arme der Drogen-Bosse treiben.

Zusammen mit der Presse, die über die Probleme der Stadt schweigt, schließt sich so der Kreis, und wir beginnen zu verstehen, wieso der Kampf für eine sichere und saubere Stadt so aussichtslos ist. Alles dreht sich im Kreis, wenn ein mächtiges Mitglied des Drogen-Rings gefasst wird, steht schon das nächste in den Startlöchern. Noch schlimmer: Verschiedene Clans streiten sich, wer wo was verkaufen darf und schrecken dabei nicht davor zurück, sich gegenseitig auszulöschen. Dass es dabei meist die Teenager trifft, die an der Ecke den Stoff an den Mann bringen, ist in Anbetracht der Tatsache, dass David Simon in der Serie seine persönlichen Erfahrungen verarbeitet, besonders tragisch. Die Bosse der Clans lässt das allerdings kalt. Corner-Boys, wie sie in der Serie genannt werden, sind leicht zu ersetzen, da die jungen Leute im von Armut geplagten Süden der Stadt keinen anderen Ausweg sehen.


Baltimore ist weder Protagonist noch Antagonist. Weder Held noch Gegenspieler. Vielmehr ist Baltimore ein Produkt der amerikanischen Gesellschaft. Die Serie könnte genauso gut in jeder anderen Großstadt in den USA spielen, aber David Simon und Ed Burns stammen aus Baltimore, waren dort selbst als Lehrer, Polizist und Redakteur tätig. Niemand sonst könnte ihre ausführliche Geschichte so glaubwürdig und spannend darstellen, wie das Schöpfer-Duo, das vorher bereits in dem Buch The Corner: A Year in the Life of an Inner-City Neighborhood seine Erlebnisse verarbeitete. Vor dem Meisterwerk The Wire arbeiteten die Autoren gemeinsam an The Corner, einer Mini-Serie auf HBO mit einer ähnlichen Thematik. Sie sind eben Experten auf ihrem Gebiet und wissen am besten, wie es um Baltimore steht.

Wie fandet ihr The Wire? Konntet ihr euch auf einen Lieblings-Charakter festlegen?

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