Gegenwarts-Fantasy mit einem umwerfenden jungen Cast und einem echten Gespür für sein Setting bietet Salem. In seinem zweiten Spielfilm mixt Regisseur Jean-Bernard Marlin Bandenkriege, eine Love Story à la Shakespeares Romeo und Julia und die biblischen Plagen (!) in ein dunkles Märchen über Schuld und Sühne.
Stellt euch den Banlieue-Thriller Athena vor, der letztes Jahr bei Netflix begeisterte, aber mit einem Schuss Fantasy!
In dem Fantasy-Film steht die Apokalypse vor der Tür
Salem spielt an einem Ort, der von den grünen Weiden des Auenlands und anderer fantastischer Schauplätze kaum weiter entfernt liegen könnte: den nördlichen Vierteln von Marseille.
Gepflastert mit Hochhausblocks, erregt dieser Landstrich meist wegen Schlagzeilen über Bandenkriminalität die Aufmerksamkeit der Nation. Darin ähnelt der Schauplatz dem des filmischen Vorstadt-Aufstands aus Athena. Im Norden Marseilles wachsen Djibril und Camilla auf. Er stammt von den Kamoren, gehört zu den Roma und ihre Viertel bekriegen sich wie Montagues und Capulets.
Gemeinsam erwarten die Teenager ein Kind, als er Zeuge eines Mordes wird. Der sterbende Junge belegt die beiden Viertel im Todeskampf mit einem Fluch wie Thybalt bei Shakespeare. Und wie Romeo wird Djibril selbst zum Mörder. Er wird inhaftiert, doch lässt ihn die Vision des Toten nicht los. Apokalyptische Plagen werden auf die Hochhausblocks herabfahren. Sein fester Glaube: nur seine übernatürlich begabte Tochter kann die Menschen retten. Allerdings hat sie kein Interesse an Kontakt mit ihm.
Salem verbindet Mileu-Feeling mit cleveren Shootouts
Ich musste tief in mich gehen, um diese Story halbwegs verständlich zu beschreiben, die sich liest wie das Whiteboard nach einem schlaflosen 72-Stunden-Brainstorming (so ähnlich wie ein Festival-Besuch in Cannes also). Verblüffenderweise fühlt sich der Film von Jean-Bernard Marlin (Regisseur des César-Gewinners Scheherazade) unter dem Wust an Ideen leichtfüßig und selbstsicher an. Voller Elan werden wir in diesen Mikrokosmos hineingeführt, erkennen seine Machtverhältnisse ohne viel Exposition und schließen die jungen Menschen zwischen den Fronten ins Herz.
- Salem läuft in der Sektion Un Certain Regard bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes.
Die Basis dieses Fantasy-Films ist ganz klar die Realität, sowohl was die unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Religionen in den "Brennpunktvierteln" angeht, als auch die authentische Inzenierung junger Liebe. Getragen wird er von einem außerordentlich glaubwürdigen Cast, das für die Kamera geboren scheint. Allen voran die charismatische Wallenn El Gharbaoui, die Djibrils Tochter Ali spielt.
An Schauwerten fehlt es aber auch nicht. Ein Shootout wartet mit klassischen, harten Western-Ideen auf, inklusive wehendes Bettlaken, das die Position des Täters verrät. Ein anderer ähnelt eher einer Hinrichtung und schockiert durch seine Beiläufigkeit. Von den hier nicht näher beschriebenen Fantasy-Einbrüchen ganz zu schweigen.
Hin und wieder rast der Film seinen eigenen Ideen davon und biegt sich seine Drehbuchwendungen etwas zu einfach gerade. Was mich an diesem Film allerdings beeindruckte, war einerseits das visuelle Flair, mit dem Marlin ans Werk geht und das selbst Jahrzehnte nach Hass und ein Jahr nach Athena frisch erscheint. Hier ist ein Regisseur, der mit dem richtigen Stoff Großes leisten kann.
Zum anderen imponierte mir der Mut zur Einfachheit. Der Romeo-und-Julia-trifft-X-Men-Plot klingt überladen, aber erzählt wird Salem wie eine Parabel, deren symbolisch aufgeladene Wendungen mehr aussagen, als es Dialoge könnten. Es ist beileibe kein perfekter Film. Er besticht jedoch durch eine Originalität und unbändige Lebensnähe, die das Meiste, was man derzeit im Fantasy-Genre zu sehen bekommt, blass aussehen lassen.
Salem hat noch keinen deutschen Starttermin.
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Ich war beim FILMSTARTS-Podcast Leinwandliebe zu Gast und spreche mit meinem Kollegen und Cannes-Mitbewohner Christoph Petersen über Indiana Jones und das Rad des Schicksals, Martin Scorseses Killers of the Flower Moon und Asteroid City von Wes Anderson. Hört rein!