Ich, Fahrraddiebe & schreiende Ungerechtigkeit

18.02.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Fahrraddiebe
Alamode Films
Fahrraddiebe
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Vittorio De Sica und Cesare Zavattini erzählen eine scheinbar simple Geschichte im Rom der Nachkriegszeit. Fahrraddiebe ist nicht bloß ein sozialkritisches Kind seiner Zeit, sondern auch noch Jahrzehnte später ein berührender und wahrhaftiger Film.

Es ist 1948. Die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkriegs sind in ganz Europa sichtbar und lassen die zerrütteten Gesellschaften nur schwer wieder zusammenwachsen. Auch in der italienischen Hauptstadt lebt die Masse, aufgrund von Hunger und Arbeitslosigkeit am Existenzminimum. Die faschistische Diktatur Mussolinis ist vorüber und hinterlässt wirtschaftliche, wie auch moralische Ziellosigkeit. Innerhalb dieser Ausgangssituation greift sich Regisseur Vittorio De Sica in Fahrraddiebe ein Einzelschicksal heraus und erzählt eine, auf den ersten Blick, banale und alltägliche Geschichte.

Antonio Ricci erhält nach langer Arbeitslosigkeit endlich die Chance, Geld zu verdienen, um seine Familie ernähren zu können. Mit dem Fahrrad soll er sich aufmachen, die bröckelnden Mauern und Fassaden Roms mit Plakaten zu bekleben. Weil er aber kein Rad besitzt, sieht er sich gezwungen, die Bettwäsche seiner Familie zu verpfänden, um seine Aufgabe erledigen zu können. Der Filmtitel ist Spoiler genug, um den Zuschauer ab sofort jedes Mal zittern zu lassen, wenn Antonio sein neues Gefährt kurzzeitig unbeaufsichtigt lässt. Die bittere Ungerechtigkeit schlägt bereits am ersten Arbeitstag zu, wenn Antonio sein Fahrrad an einen Dieb verliert. Gemeinsam mit seinem Sohn Bruno macht sich der Bestohlene auf die Suche. Eine Odyssee durch das triste und stickige Nachkriegs-Rom beginnt.

Warum ich Fahrraddiebe mein Herz schenke
Auch mir wurde schon mal ein Fahrrad gestohlen. Ich erinnere mich an die Fassungslosigkeit, die Wut auf die unbekannten Diebe, die Ohnmacht und die Angst vor der Beichte im Elternhaus. Den Gedanken an einen feist grinsenden Kriminellen, der auf meinem geliebten Drahtesel in den Sonnenuntergang reitet, konnte und wollte ich nicht ertragen. Doch mit dem Kauf eines neuen und sogar etwas besseren Zweirads schwand die Trauer allmählich. Dazu gab es ein unknackbares Hochsicherheitsschloss. Ein Hochsicherheitsschloss, das Antonio Ricci nicht hatte, das ich ihm aber von Herzen gewünscht hätte. Natürlich ist mein Erlebnis nicht im Geringsten mit seinem Verlust vergleichbar, denn in meiner Existenz war ich zu keiner Zeit bedroht und überhaupt geht es in Fahrraddiebe um mehr als nur Diebstahl.

Von Beginn an fesselt das Schicksal des Protagonisten, der jeder andere aus der arbeitssuchenden Masse hätte sein können. Die Suche nach dem gestohlenen Fahrrad wird getragen von der rührenden Beziehung zwischen Vater und Sohn. Obwohl Antonio am Boden ist, keine Aussicht auf Erfolg hat und schließlich sogar gesellschaftliche Schande über ihn kommt, ist Bruno voll der Bewunderung für seinen Vater. Wie selbstverständlich folgt er ihm durch den kläglichen Alltag im Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Eine Schlüsselszene, in der Antonio den vermeintlichen Dieb, einen noch ärmeren Zeitgenossen, stellt, ihm aber nichts nachweisen kann, unterstreicht treffend die Aussage des französischen Filmkritikers André Bazin zum Grundgedanken des Films. “Die implizierte These ist von einer wunderbaren und abscheulichen Einfachheit: In der Welt, in der dieser Arbeiter lebt, müssen die Armen sich gegenseitig bestehlen, um zu überleben.”

Fahrraddiebe entlarvt den Teufelskreis einer in Armut versinkenden Gesellschaft. Jeden Tag fragen sich Millionen, woher sie denn nehmen sollen, wenn sie nicht stehlen dürfen. De Sica lässt sein bemitleidenswertes Paar gegen eine gleichgültige Masse anrennen, die sich einen Dreck um das individuelle Dilemma Antonio Riccis schert. Mit wachsender Ausweglosigkeit, verengt sich auch stetig der Handlungsspielraum des gebrochenen Vaters. Ihm gehen die Möglichkeiten aus und auch der Zuschauer hat statt Alternativen eher einen dicken Kloß im Hals, wenn einmal mehr Brunos tränenerfülltes Gesicht von der wunderbar einfachen Melodie des musikalischen Themas untermalt wird. Die Kritik, dass der Regisseur mit solchen Mitteln die Armut stilisieren würde, ist sicherlich nicht unberechtigt. Aber ich bleibe der Ansicht, dass De Sica durch die filmisch gekonnte Dramatisierung einer gewöhnlichen Geschichte, etwas außergewöhnlich Mitreißendes geschaffen hat.

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