Ein Herz im Winter der Mutlosigkeit

17.05.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Ein Herz im Winter der Mutlosigkeit
moviepilot/Universum Film
Ein Herz im Winter der Mutlosigkeit
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Diese Woche lässt uns der Kommentar der Woche an der Wiederentdeckung eines alten Lieblingsfilms teilhaben und zeigt uns, wie die eigene Weiterentwicklung auch einen Film verändern kann. Winter is coming! Und dabei ist Frühling nur einen mutigen Schritt entfernt…

Im Kommentar der Woche stellen wir euch jeden Samstag einen zeitlosen Kommentar vor, ausgewählt aus den Myriaden von Kommentaren auf moviepilot – ob zu einem Film, der euch begleitet hat, zu einer Serie, die euer Herz erwärmt oder zu Stein erstarren ließ, oder zu einem Großen vor und hinter der Kamera, die euch auch beim hundertsten Sehen immer wieder die Augen öffnen, als wäre es das erste Mal: Wenn euch irgendwo auf moviepilot beim Lesen eines Kommentars ein Gefühl von Nähe, eine Erkenntnis, ein Wiedererkennen überkommt, lasst uns daran teilhaben! Schlagt ihn uns am besten per Nachricht vor, und wir präsentieren ihn der Welt.

Der Kommentar der Woche
Mit Ein Herz im Winter legt uns jp@movies einen Film ans Herz, der ihn begleitet hat, der ihn verändert hat und dessen Tragik in uns allen schlummert: All das Glück, das nur einen einzigen, kleinen Schritt entfernt ist – den einen Schritt, den wir nie wagen…

“Winter is coming” – Dieser Wahlspruch der Starks hätte schon vor 20 Jahren von Claude Sautet stammen können, als ihn George RR Martin gerade mal erst niederschrieb, und in der Tat ist es in unserer Gesellschaft in der Zwischenzeit noch einmal erheblich kälter geworden. Heute, da wir Filme feiern, in denen sich Menschen in Betriebssysteme verlieben, lohnt sich ein vergleichender Blick auf diesen Film, der gleich das Betriebssystem Liebe zum Thema hat. Wann er spielt, sieht man dem Film nicht an, er ist wunderbar zeitlos, und leider aktueller denn je, auch wenn keine Mobiltelefone auf den Tischen herumliegen oder brummend auf sich aufmerksam machen. Habe ich eure Aufmerksamkeit? Dann nehmt meine Hand, keine Angst, ich halte euch fest.

Als ich den Film damals sah und lieben lernte, identifizierte ich mich mit Stéphane, den Daniel Auteuil genial verkörpert. Ein Mann, der sich in sich selbst zurückgezogen hat, ohne… Innenleben? Das ist schon Projektion. Denn dieser Stéphane bietet nach außen keine Angriffsfläche, keine eigene Meinung, vermutlich zum Schutz vor Verletzung, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass er damit anderen weh tut, meist ohne es selbst zu merken. Denn er ist ein großartiger Zuhörer, nicht nur wenn es darum geht zu hören, wo es an den Geigen klemmt, die man ihm in die Werkstatt trägt, sondern auch in Gesprächen ist er in der Lage, die Essenz des Gesagten zu erfassen und gespiegelt wiederzugeben. So jemandem zum Freund zu haben, wissen alle zu schätzen, die mit ihm zu tun haben. Ein Katalysator, jemand der Dinge repariert, Instrumente ebenso wie wirre Gedankenwelten. Aber was will er eigentlich selbst? Wer tut das Gleiche für ihn?

Wenn man selber um die 20 (und männlich) ist, dann passt einem so jemand gut in den Kram, man kann sich mit ihm identifizieren, und sein eigenes Fehlverhalten auf eine zurückliegende, schwere Verletzung schieben. Die anderen haben ja angefangen! Dann übersieht man gerne, wie sehr sich dieser Stéphane selbst belügt. Er sammelt alle Informationen, die er über Camille nur kriegen kann, erfährt von seinem besten Freund wertvolle Einsichten, die dieser im Vertrauen mit ihm teilt… er gibt alles, um sie in sich verliebt zu machen, um sie dann doch zurückzuweisen. Das ist nicht schön. Das ist gemein, perfide, beschissen. Nein, heute identifiziere ich mich nicht mehr mit ihm, und auch mit sonst niemandem mehr in diesem Film, wofür ich ihn nur noch mehr liebe als damals. Ich befürchtete ihn von meiner Lieblingsfilmliste zu streichen, das Gegenteil ist der Fall, denn der Film hört hier nicht auf, es ist nur seine äußerste Schicht. Warum macht es uns der Film denn so leicht, dass wir uns mit ihm identifizieren?

Nun, er fängt mit ihm an, und es ist seine Stimme die zu uns aus dem Off spricht. Er erzählt von sich und seinem besten Freund und Geschäftspartner Maxime, der ihn nie fragt, was er eigentlich in seiner Freizeit macht. Ja, es sind immer die anderen, die nicht nach uns fragen, dafür ungefragt ständig von sich erzählen… tatsächlich enthält der Film hier einen Schlüsselmoment, den man gerne übersieht, denn wir sehen(!) was er tut, wenn er alleine ist. Er repariert eine mechanische Puppe. Für wen? Den Geigenlehrer Lachaume, bei dem sowohl er, Maxime als auch Camille einmal Stunden genommen haben. Wahrscheinlich rührt die Freundschaft von Stéphane und Maxime noch aus dieser Zeit. Die Männer pflegen einen sehr familiären Umgang miteinander, aber was Lachaume seinem Schüler damals gesagt hat, erfahren wir nicht, nur dass er ein Sonderfall sei. Und wir erfahren, dass etwas in ihm steckt, präzises Handwerk, das er geduldig an seinen Lehrling weitergibt, und er heilt die Instrumente von ihren Wunden, und damit auch deren Besitzer. Mehr noch, er weiß auch die musikalische Interpretation zu würdigen, was in einer weiteren zentralen Szene zum Ausdruck kommt, wenn er Camille rät ein Stück langsamer zu spielen, das sie dann mit einer Wucht interpretiert, dass er deren Intimität nicht mehr aushält. Er verlässt zu ihrer Verblüffung die Probe. Aber die Musik begleitet ihn, auf die Straße, in die Straßenbahn… und die Szene bereitet mir Gänsehaut. Denn so großartig ist Liebe selten eingefangen und auf Film gebannt worden. Wie wir von Maxime erfahren, drückt sich diese Camille nur in ihrer Musik wirklich aus. Und hier, an dieser Stelle, bringen beide etwas ineinander zum Schwingen. Er klöppelt noch etwas in der Geige nach, eine letzte Feinjustierung, und dann klingt dieser Körper. Sie spielt darauf, verblüfft, mitgerissen, zu schnell. Er: mach langsamer. Mehr Sex geht nicht. Dann haben sie ihren Rhythmus gefunden, und ihre Musik trifft ihn jetzt derart, das er flieht, aber die Musik mit sich trägt, etwas, das nur Film so wunderbar erzählen kann, wenn die Musik weiterläuft und seine vergebliche Flucht untermalt. Die Musik ist in ihm, und sie spielt für ihn, er ist ihre Muse, und für einen Moment ist er außer sich, läuft mit ihr durch den Regen, und die vom Regen feuchte Emmanuelle Béart ist endlich nicht nur unerträglich schön, sondern sieht hier tatsächlich zugänglich aus. Die vielleicht schönste Szene des Films, denn sie tut hier genau das, was niemand tut, und fragt nach ihm, warum er nicht selbst Geige spielt, und vermutet, dass er zu kritisch sei, und er weicht nur weiter aus. Welche Rolle Lachaume dabei spielt, können wir nur vermuten, den Schmerz, den ein Lehrer seinem sensiblen Schüler einmal zugefügt haben mag… der Film hält sich hier bedeckt, aber es ist alles angelegt, lädt zum entdecken ein, und was kann man mehr von einem Film erwarten?

Aber zurück in die Szene, die wurde, wie mein Kommentar, an der Stelle nämlich unterbrochen, weil ein Tisch frei wurde, und dort streitet sich gerade ein Paar am Nebentisch, und Stéphane geht das HERZ AUF GRUNDEIS. Klingt nicht so sexy, viel weniger poetisch, fürchterlich Deutsch, trifft aber den Kern viel besser. Den Kern bzw. den Kerl. Diesen Typ Kerl, wie Stéphane einer ist, und viele, viele andere Männer, oder sollte ich sagen Jungs, die noch immer nicht erwachsen geworden sind, und sich weigern es zu werden? Nein Frauen sind nicht einfach, niemals sind sie das, nie so angenehm wie eine Männerfreundschaft mit Maxime, die einem vieles ersetzen kann, ebenso wie eine Arbeit die man liebt – das ist Glück, sagt auch Lachaume an einer Stelle. Aber das unbeschwerte Spiel der Kinder, zu dem Stéphane immer wieder hinaus sieht ist ihm fern, bleibt ihm verwehrt, das Spiel, wenn die beiden Männer den Jungen beim Versteckspiel vor dem Mädchen verstecken… wir Männer verstecken immer den Jungen in uns, weil er sich mal das Knie aufgeschlagen hat, ja das tat weh, aber warum heulen wir ewig rum, oder schlimmer, verstecken unsere Tränen? Denn die Tränen, die der Mann am Nebentisch vergießt, sie machen den Unterschied. Tränen, die sich Stéphane nicht erlaubt, um ja keine Schwäche zu zeigen, und so verliert er alles und gewinnt nichts. Sie hätten füreinander ideal sein können, ein Lied von Eis und Feuer, aber sie verpassen einander. Erst flüchtet er, dann sie. Nicht mit Liebe haben sie einander angesteckt, sondern mit Eis und Kälte, sie tragen ihre Verletzung wie eine Mauer vor sich her, und so sitzt Stéphane am Ende weiter wie in einem Aquarium und trinkt seinen Kaffee, seine Gesichtszüge verraten nichts, aber auch rein gar nichts! Doch… die Kamera fährt auf ihn zu, wir kommen ihm ein bisschen näher. Mehr braucht es manchmal nicht, um Hoffnung zu verbreiten. Einander langsam näher kommen, sich Zeit lassen.

Noch etwas. Die anderen Figuren in diesem Film kommen bei näherer Betrachtung auch nicht so gut weg. Maxime ist verheiratet, hat Kinder und stürzt sich doch in eine Affäre mit Camille. Dann überlässt er aber doch Stéphane das Feld, als er bemerkt, was sich da zwischen den beiden anbahnt. Er schickt ihn zu ihr ins Studio, und löst damit doch die Katastrophe aus, verschuldet sie ein bisschen mit. Stéphane verleugnet ihn als Freund, und übersieht was er an ihm hat. Er ist eben nicht ansatzweise so perfekt und erhaben, wie er sich gibt und tut. Oh, und er ist ein Täter. Sein Blick tut weh. Es ist sein eindrücklicher Blick der Camille beim Spiel aus der Fassung bringt, und er tut es mit Absicht. Ebenso wieder im Auto, wenn sie ihn bittet sie nicht anzusehen – die Kamera hält drauf, Emmanuelle Béart muss das Auto verlassen um aus der Szene zu entkommen! Ein ganz, ganz großartiger Kinomoment ist das, und so beiläufig. Männer verletzen mit ihrem Blick. Und Frauen? Mit Worten. Camille zahlt es ihm heim, sie maskiert sich, trägt Kriegsbemalung auf und trifft ihn unter der Gürtellinie, mit wohl zurechtgelegten Worten, an denen sie lange gefeilt hat. Ein Kern an Wahrheit enthalten sie, und es ist die Mischung, die weh tut, denn sie lässt den Ausbruch spontaner wirken, als er ist. Und die anderen sehen nur zu, die Freunde, die Mentoren, die Gäste… und eben wir als Zuschauer. Machen wir es denn besser? Erlauben wir uns Trauer über etwas, das wir verloren haben? Öffnen wir am Ende ein Fenster, nachdem wir die Nacht am Totenbett unserer Leidenschaften und Träume verbracht haben, lassen wir los, sind wir füreinander da? Tränen brechen den Damm, die Mauer, die wir um uns errichtet haben. Eine genügt oft, um den Anfang zu machen.

Traut euch. Immer wieder. Das zeigt uns Sautet ganz unnachahmlich mit diesem Film. Verletzen werden wir einander so oder so, aber wozu es gut ist, erfahren wir nur, wenn wir es ausprobieren und die eine und andere Träne darüber verlieren.

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So, und ich Idiot frage mich, warum ich nicht schon vor 20 Jahren auf die Idee kam, mir die anderen Filme dieses Regisseurs anzusehen – das hole ich jetzt mal schleunigst nach. Ihr entschuldigt mich? Danke. Für alles.

Den Kommentar findet ihr übrigens hier.

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