Rodriguez - Coming From Reality
Jahr: 1971
Genre: Folk, Rock
Anspieltipps: Sandrevan Lullaby - Lifestyles, To Whom it May Concern, Cause
Wie die meisten Bewohner des Westens war mir der Name "Rodriguez" bislang nur als häufiger Nachname, nicht aber als alleinstehender Künstlername eines Musikers der 70er Jahre bekannt. Anfang des besagten Jahrzehnts bekam Sixto Rodriguez einen Plattenvertrag für 2 Alben, welche in seiner Heimat USA jedoch vollkomnen erfolglos blieben. Er verlor, trotz guter Kritiken, mangels jeglicher Einnahmen, seinen Vertrag und hing die Musik an den Nagel. Es sollten fast 30 Jahre vergehen, bis er durch ein paar Fans bemerkte, dass er in Südafrika einer der bestverkaufendsten Musiker, und seine beiden Alben dort im Kanon der Musik verwurzelt sind. Seine Lieder kennt dort jedes Kind, er wird als einer der einflussreichsten Musiker gehandelt. Inzwischen lebte er in den USA unter ärmlichsten Verhältnissen, ohne jede Technologie. Wo das viele Geld nun hingeflossen ist, dass er zweifellos hätte einnehmen müssen, bleibt ungeklärt. Jedoch ist seine Musik erst durch die oscargekrönte Doku Searching for Sugar Man aus dem Jahr 2012, die sich mit seiner (nicht zwangsläufig positiv geneint) unglaublichen Karriere beschäftigt, auch im Westen angelangt. Auf der CD, die ich besitze, befindet sich neben einem sehr aufschlussreichen und dicken Booklet mit Hintergrundinformationen auch der Hinweis, dass Rodriguez vom Kauf des Albums auch tatsächlich Geld erhält. Alleine das Wissen tut gut.
Auf "Coming From Reality", seinem zweiten und letzten Album, distanziert sich Rodriguez etwas vom minimalistischen Folk-Sound des Vorgängers "Cold Fact", deutlich mehr Instrumente kommen zum Einsatz, Streicher und Schlagzeuger spielen neben Sänger und Gitarristen überaus prägnante, teils etwas theatralische und Soundtrack-artige Passagen, manche Songs klingen daneben wieder überraschend hart oder beschwingt. Aber auch der Sound seines Debüts findet sich auf ein paar der 10 Nummern (die meisten Editionen enthalten noch 3 sehr empfehlenswerte Raritäten als Bonus) wieder. Erneut liegt die Stärke des Musikers aber in seinem Songwriting, sehr persönlich, hintergründig, mal positiv, mal negativ. "Don't sit and wait, don't sit and dream / Put on a smile, go find a scene" singt er, man soll nicht darauf warten, dass etwas passiert, sondern es selbst in die Hand nehmen. Unmittelbar zuvor, auf dem vorangehenden Song, beschäftigt er sich noch damit, dass der Krieg für Soldaten nie endet und sie selbst den Frieden zu ihrem Krieg machen müssen, mit starker Anlehnung an den Kalten Krieg. Rodriguez beobachtet, macht sich Notizen, formt sie zu Musik. Man merkt, dass er, wie auch die Produzenten, alles gegeben haben, um "Coming from Reality" zu dem Erfolgsalbum zu machen, dass "Cold Fact" nicht werden konnte, trotz hoher Erwartungen, die das Studio an Rodriguez hatte. Ironischerweise endet das Werk mit dem Song "Cause" um einen Mann, der absolut alles verloren hat - und beendet genau damit seine eigene Karriere und bewahrheitet nahezu alles, was im Lied geschildert wird. Aber hey, vielleicht wird nun, da auch der Westen auf Rodriguez aufmerksam wurde, sein Schaffen endlich so legendär wie es sein müsste.
★★★★★ (5 von 5)
Prince Kay One - Rich Kidz
Jahr: 2013
Genre: Hip-Hop, Pop-Rap
Anspieltipps: Pushen, Rich Kidz, Helal Money
Kay One ist ein technisch ausgesprochen versierter und talentierter Deutschrapper - und mit absoluter Sicherheit derjenige, der in seiner Karriere das meiste Potenzial verschenkt hat. Lassen wir einmal die Lager, die der Beef mit Bushido gespalten hat, beiseite. Von einem Rapper, der als der Freestyle-König gilt, kann man ein gewisses Mindestmaß erwarten, wenn man eines seiner Alben kauft. Dass Kay dabei inhaltlich weit über der Oberfläche schwebt und den Begriff Tiefe auf seinem mit Klunkern besetzten iPhone erst googlen muss, ist dabei verzeihbar, wenn die Technik stimmt. Und Kay hat dahingehend sehr viel zu bieten. Leider ist "Rich Kidz" fast durchgehend ein Schuss in den Ofen. Ich muss einmal etwas weiter ausholen, zu EGJ-Zeiten: "Prince of Belvedair" war ein sehr durchwachsenes Album. Ein paar Tracks zeugten von Kays Talent, das waren die "puren" Hip-Hop-Tracks. Dann gab es jene feierlichen Partytracks, die a la Pitbull oder Flo Rida im House-Gewand daherkamen - das ist nicht unbedingt was man hören will, wenn man Musik eines Deutschrappers kauft, aber das kann man durchaus anhören, und es hat einen gewissen (unfreiwilligen) Comedy-Faktor. Und dann waren da noch die Lovesongs, die Kay zwischen all den Prahlereien, wie viel Sex er hat, nienand abkauft und die wohl eine weibliche Zielgruppe ansprechen sollten. Kurzum: "Rich Kidz" ist genau dasselbe, nur mit Reduktion der Hip-Hop-Songs auf ein Minimum und deutlich schlechter produziert. Es wirkt wie "Prince of Belvedair" durch einen billigsten Amateur-Schlager-Fleischwolf gedreht; oftmals mit überlangen Hooks von RnB-SängerInnen über amateurhafte Synth-Lines und mies abgemischten Beats, die schlichtweg für das Genre zu weiche Kicks und Claps verwenden. Kay One wirkt auf diesen auch nicht mehr, als ob er im Club mit Champos Spaß hätte, sondern als ob er auf Teufel komm raus Clubmusik rausballern wollte. In manchen Tracks hebt er seine RTL-Zeit zudem auch noch unglaubhaft cool hervor, was den Eindruck eines Produkts auch noch verstärkt. Dafür bleibt seine Technik auf der Strecke. Gott sei Dank hat die Rapszene spätestens seit dem Brett "Tag des jüngsten Gerichts" den Löwen aufgeweckt, wie Kenneth so zu sagen pflegt - somit ist alles, was Kay nach diesem Album an Musik veröffentlicht hat, empfehlenswert und seinem Talent entsprechender.
★★☆☆☆ (2 von 5)
Black Veil Brides - Wretched and Divine: The Story of the Wild Ones
Jahr: 2013
Genre: Rock, Metalcore, Emo
Anspieltipps: I am Bulletproof, We Don't Belong, In the End
(Da es zu diesem Konzeptalbum auch einen 45 minütigen Film gibt, SPOILER-Alarm)
Die Black Veil Brides, in den USA mit treuer Fanbase und Erfolg bedacht, haben im deutschsprachigen Raum noch nicht so wirklich Fuß gefasst. Das möchte ich ändern. Gut, man kann sich den Kontrast in Sachen Bekanntheit damit erklären, dass Amerika nachwievor eine blühende Emo-Szene aufweist, und Deutschland/Österreich die Hochphase bereits hinter sich hat. Auch das möchte ich ändern. Seit ihrem (im Übrigen grandiosen) Debütalbum "We Stitch These Wounds" sind 3 Jahre vergangen, und die relativ androgynen Emo-Lifestyler sind älter geworden. Dies äußerst sich rundum, musikalisch wie optisch. Die Teenager-Anarchie, die einst auf ihrer Musik vorherrschte, wich ausgereifteren Konzepten, nachwievor geben sich die Musiker schwarz gekleidet und feminin, aber legen deutlich mehr Wert darauf, dass jedes Detail und jedes Strähnchen gesetzt. "Wretched and Divine", ihr drittes Album wirkt deutlich melodischer und durchdachter, aber auch kraftvoller als die Vorgängerwerke. Es gilt als Konzeptalbum, welches jedoch alle Themen und Eigenheiten der Band verbindet: es dreht sich um ein rebellisches Mädchen, welches sich von der Welt missverstanden fühlt und in einer Irrenanstalt steckt. Sie wird von der Organisation F.E.A.R. ("For Every and All Religion") verfolgt und getötet. Dieses Ereignis ruft die "Wild Ones" auf den Plan, die es voller Wut mit den Mördern aufzunehmen versuchen. Zugegebenermaßen, solch ein abstruser Plot eignet sich nur für ein musikalisches Werk, aber die Black Veil Brides holen sehr viel raus. Es befinden sich 12 reguläre Songs auf der CD, die von 6 gesprochenen Skits und einer orchestralen Overtüre zusammengehalten werden, wodurch der Eindruck entsteht, man würde einem Soundtrack lauschen; trotzdem sind alle Lieder einzeln außerhalb des Kontexts genauso hörbar; sie besitzen eine klare Struktur, Anfang und Ende. Wie man sich auch immer "Wretched and Divine" anhört, Fans der Band kommen voll auf ihre Kosten: die schwarzgekleideten Rocker zelebrieren auf dieser CD Individualismus, Rebellion und (Teenie-)Anarchie, wobei die Musik klingt ausgereift wie nie klingt.
★★★★☆ (4 von 5)
Evanescence - The Open Door
Jahr: 2006
Genre: Nu-Metal, Alternative Rock
Anspieltipps: Call Me When You're Sober, Lithium, Lacrymosa
"Fallen", das Debütalbum von Evanescence aus dem Jahr 2003, gehört zu meinen persönlichen Lieblingsalben aller Zeiten; von ihrem 2011er Album "Evanescence" war ich zugegebenermaßen enttäuscht, da der besondere, unverwechselbare Touch, den ihr Erstlingswerk versprühte, nahezu verblichen wirkte; das Album war technisch einwandfrei, jedoch fehlte Nachhaltigkeit und Wumms. Deshalb habe ich mich an das zweite Album der Band, "The Open Door", lange nicht herangetraut. Jegliche Zweifel waren unbegründet: "The Open Door" ist ein Mammutwerk einer brillanten Band, welches dem Vorgänger auf jeder Ebene würdig folgt. Wie ein Sequel, welches um die Qualität des ersten Teils Bescheid weiß, und nun bemüht ist, diesem ebenbürtig zu sein. Diese Theorie wird z.B. dadurch bestätigt, dass es doch ein paar Parallelen gibt - so beginnen beide Alben extrem ähnlich mit Amy Lees Stimme einzig und allein von statischen E-Gitarren begleitet, alles gefiltert als käme der Klang von einem alten Radio. Und ähnlich dem Debüt sind bei "The Open Door" Superlative angebracht. Das Album klingt emotional sehr aufgewühlt, seelisch verletzt oder schlicht und ergreifend in Stücke zerfetzt, oft etwas makaber, mit Hang zur Theatralik, trotzdem in der Realität verankert, manchmal fragil und zart, und dann schlagfertig. Amy Lee, die kreative treibende Kraft, Stimme und Poetin hinter Evanescence, ist zwar eine zärtliche und romantische Künstlerin - aber wer sie erzürnt, dem blüht Übles. Sie bedient sich dabei oftmals Fantasy-Motiven und metaphorischen Bildern, die sie aber dann wieder mit offener Direktheit bricht - gut zu sehen am Kontrast des mystisch anmaßenden Titels "Snow White Queen" mit dem konkreten und wenig symbolischen "Call Me When You're Sober".
Ich hoffe jedenfalls, dass uns das Projekt von Frau Lee mit zumindest noch einem weiteren Album beschenkt. Denn auch, wenn das letzte bereits 5 Jahre zurückliegt - getrennt sind sie noch nicht.
★★★★1/2 (4 1/2 von 5)
Drake - Views
Jahr: 2016
Genre: Hip-Hop, Trap, RnB
Anspieltipps: Keep the Family Close, Hotline Bling, 9
Mehrere Kritiker, die Drake zuvor als einen der besten, wichtigsten und vielversprechendsten Hip-Hop-Künstler der modernen Zeit ansahen, zeigten sich von seinem neuesten musikalischen Erguss "Views" überraschenderweise enttäuscht - dabei wurde sein letztes Album, "If You're Reading This It's Too Late" aus dem Jahr 2015, noch einhellig gepriesen. Den Hauptkritikpunkt, der Kanadier würde beginnen, sich zu wiederholen, halte ich für etwas merkwürdig, bedenkt man, dass andere Rapper mit weitaus oberflächlicheren Texten regelmäßig gute Kritiken ernten. Drakes Stärke waren immer schon sehr persönliche Texte und sein Hang zur musikalischen Darbietung der Raps, die besonderen Wert auf Satzmelodie und Betonung legt; auch auf "Views" finden sich diese Elemente wieder. Aber das ist keinesfalls ein Manko; von Album zu Album wird der Kanadier professioneller, und die Produzenten ausgefeilter und bemühter, seinem Ruf und Talent zu entsprechen. So beginnt "Views" extrem bomnastisch, fast wie ein Bond-Song und lässt Drake von seinen vergangenen Freundinnen, die meinten, sie würden Freunde bleiben, aber nie wieder von sich hören ließen, eher singen als rappen. Danach folgen perfekte, nahezu hypnotisch verwaschene Trap-Beats, oft unterlegt von Soundeffekten und Geräuschkulissen; die die Stimmung verstärken. Oftmals wirkt der Rapper deprimiert, gezeichnet von schmerzvollen Beziehungen, hat aber auch seine hohen Momente, inklusive leichtfüßigen Gute-Laune-Liedern. Die Kunst dabei ist, dass man ihm beides abkauft; es wirkt authentisch aus dem Leben gegriffen. Anders als der teilweise wütende Vorgänger lässt "Views" dabei aber jegliche Aggression vermissen. Im Grunde ist der Drake wohl ein ganz Lieber, den man auch leicht verletzen kann - etwas, dass dem vislang maskulin geprägten Hip-Hop-Genre ohnehin gut tut.
★★★★☆ (4 von 5)
My Chemical Romance - The Black Parade
Jahr: 2006
Genre: Alternative Rock
Anspieltipps: Welcone to the Black Parade, Teenagers, The Sharpest Lives
Die Alternative Rock-Band My Chemical Romance, die Zeit ihres Bestehens in den USA große Erfolge verbuchen konnte, wird seit ihrer Trennung 2013 in den Staaten nicht nur ein Highlight des 21. Jahrhunderts, sondern sogar als eine der besten Bands aller Zeiten gehandelt. Immerhin veteint sie alles, was so einen Titel ausmacht: kommerzieller Erfolg, durchwegs positive bis euphorische Kritiken, eine breit gefächerte Zielgruppe (die Komplexität der Kompositionen und Konzepte spricht Puristen an, die rebellische Kraft der Texte und der extentrische Stil von Sänger Gerard Way besonders ein jugendliches Publikum) und eine mit 4 Alben überschaubare, aber durchwegs gelobte Diskografie. Um genauer zu erläutern, wie genial diese Band ist, müsste ich allerdings weiter ausholen, als es hier wirklich geht, deshalb nehme ich ihr bestes Album, "The Black Parade", her. Und oh mein Gott, liebe ich diese CD. Es handelt sich hierbei um ein Konzeptalbum eines Krebskranken im Endstadium - ein Zyniker, der gerne provoziert und der Gesellschaft den Stinkefinger zeigt ("[...] my resignation, I'll serve it in drag") - der uns von seinem Leben und seinem baldigen Tod erzählt. Dabei dreht sich einiges um die Erinnerung an eine Marschkapelle, zu der ihn in seiner Kindheit sein Vater mitgenommen hat. Aus den Erinnerungen ergibt sich ein komplexes Psychogramm des Patienten, und dessen Einstellung zur Welt. Laut der Band waren 3 der größten Alben der Musikgeschichte Inspiration für dieses Album, "A Night at the Opera", "The Wall" und "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band". Auch wenn die Einflüsse an einigen Stellen deutlich werden, offenbart sich hier kein 60s und 70s Revival, sondern eines der charakteristischsten Zeitdokumente der 00er Jahre. Aufgrund des morbiden, rebellischen Tons der Musik in Kombination mit den emotionalen und melodischen Momenten, die oft von Weltschmerz handeln, gilt das Album als Favorit der amerikanischen Emo-Szene, auch wenn Gerard Way sich von dieser distanzierte. Vielleicht auch, da die vielen Motive, lyrischen und inszenatorischen Kniffe und Strukturen für die sonst eher direkten Hymnen der Subkultur untypisch sind. Generell ist "The Black Parade" aber ein Album für jeden, der zumindest ein Bisschen gegen den Strom schwimmt. Ways wütend-weinerlich-raunzige Stimme hilft dabei unentwegt für das Gesamtkunstwerk, er wird dabei regelrecht zum Charakterdarsteller in dieser schwarzen Rockoper. Auf Track 5 jedoch explodiert alles, das titelgebende "Welcome to the Black Parade" wird gespielt. Mit Kapelle, Trommeln, kraftvollen E-Gitarren, Klavier, und einem verzweifelt klammernden Leadsänger, im Chor mit sich selbst, wird uns so gut wie zuletzt auf "Bohemian Rhapsody" gezeigt, wie man in weniger als 6 Minuten ein episches Lied sondergleichen erschafft, ohne, dass es diesen Song kopiert. Rundum ist "The Black Parade" schlichtweg ein absolutes Meisterwerk und ein Meilenstein des 21. Jahrhunderts.
★★★★★ (5 von 5)
Björk - Medulla
Jahr: 2004
Genre: Avantgarde
Anspieltipps: Oceania, Where is the Line, Who is It (Carry My Joy on the Left, Carry My Pain on the Right)
Die Isländerin Björk gehört zu den von mir meistgeschätzten Musikerinnen überhaupt. Seit jeher ist ihre Musik außergewöhnlich lebhaft und "echt"; sie singt nicht mit Goldlehlchenstimme Melodien nach Zahl, sie spielt sie quasi als Instrument. Dies tat sie zu Beginn ihrer Karriere im Rahmen von Popmusik, die trotz ihrer Experimemtierfreude leicht zu hören und konsumieren war. Sie strahlte eine ungeheure Wärme, Ehrlichkeit und einen siebten Sinn für Musikalität und Harmonie aus. Irgendwann beschloss Björk jedoch, dass Pop-Terrain vollends zu verlassen und komplett zur surrealen Experimentalkünstlerin zu mutieren. Ihr erstes Werk, welches zur Gänze schwer nachvollziehbar anmutet, war "Medulla" - ein Acapella-Projekt. Acapella-Musik hat, wenn sie von modernen Künstlern kommt, etwas sehr Befreites, Spielerisches oder Faszinierendes - man denke an die humorvollen Wise Guys oder die überwältigenden Pentatonix. Aber so funktioniert Björk nicht. Wer sie kennt, der weiß, dass selbst zu ihren Pop-Zeiten Effektharscherei nie ihr Ding war. Sie findet Gefallen an einer Idee, bastelt etwas daraus und führt es dann vor. Die Alben der neuen Björk ähneln eher Kunstausstellungen - speziell bei "Medulla" muss sich einem die Kunst aber erst eröffnen. Das Album ist überaus sperrig und kompliziert, die Beat-Boxer und Chöre sind nicht da, um klassische Pop-, Hip-Hop- oder Techno-Beats zu imitieren, sondern erinnern eher an die Arbeiten eines Aphex Twin, zu dessen extremster Ära. Der Vergleich ist denke ich gut, da beide immer schon gerne experimentierten, irgendwann aber in Sphären absoluter Befremdlichkeit entglitten. Bei den wilden und verstörenden Atemübungen und Stöhnorgien von "Ancestors" fragt man sich dann sogar, ob diese Dame nun vollends verrückt geworden ist. Dieser Song ist auch der Einzige, der durch den Einsatz eines Klaviers deutlich mit der Prämisse des Albums bricht. Setzt man sich aber mit ihrer Intention auseinander und hört genauer hin, erscheint nichts auf dieser Arthaus-Platte willkürlich. Björk hatte ihre Schwangerschaft hinter sich und in dieser gelernt, mit ihrem Körper zu arbeiten. "Medulla" sollte ein physisches Projekt sein, dass diese enge Verbindung zum Körper zum Ausdruck bringt. Ist der erste Schock über den Klang des Werkes erstmal überwunden, so fällt auf, dass Björk, anders ald andere Kunstfritzen nie den Sinn für Melodie, Takt, Eingängigkeit und Musikalität im Allgemeinen verliert, lediglich der ungewohnte Klang ungewohnter Geräusche erschwert den Zugang. Deshalb funktionieren ihre späteren Werke wie "Biophilia" oder "Vulnicura" - beide hoch experimentell - auch viel besser, da sie trotz avantgardistischem Aufbau auf klassischere Instrumente und vollere Kompositionen aufbauen.
★★★☆☆ (3 von 5)