Autismus, Mobbing und die Flucht in den Computer

01.09.2012 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
"In Games kann man sein, wer oder was man will. Hier […] nur ein Mensch."
moviepilot/Kinowelt
"In Games kann man sein, wer oder was man will. Hier […] nur ein Mensch."
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In seiner eigenen Welt ist Ben der Held in einem Computerspiel und in unserer der Held des Films “Ben X”. Warum kein anderer Film den Themenkomplex Autismus, Mobbing und Flucht in den Computer besser behandelt, damit befasst sich der Kommentar der Woche.

In unserer Rubrik Kommentar der Woche möchten wir eure geistig-textuellen Ergüsse, also eure Kommentare, feiern. Die Voraussetzungen dafür können beinahe alle Kommentare (egal ob für Filme, Serien, Personen, News) erfüllen, ob nun schön, persönlich, kurz, lustig, bizarr, alt, nachdenklich, lang, originell, treffend, gehaltvoll, neu, dadaistisch, terracottaorangenrot oder ihr habt uns einfach nur ausreichend mit Manfred Krug-Büchern bestochen. Ihr könnt mich per Nachricht gerne gelegentlich auf einen Kommentar, der euch besonders gut gefallen hat bzw. euren absoluten Lieblingskommentar auf moviepilot, hinweisen – aktuell bin ich z.B. weiterhin besonders auf der Suche nach tollen Personen- und Serien- oder Staffelkommentaren. Wir können euch keine Versprechungen machen, dass wir den Vorschlag auch auswählen, aber inspirieren lassen wir uns gerne.

Der Kommentar der Woche

Ein extra Level und Bonuspunkte gibt es heute für phoenix409, der uns in seinem Kommentar zum Film Ben X beschreibt weshalb dies vielleicht einer der wichtigsten Filme der letzten zehn Jahre ist:

Need more friends with wings,
All the angels I know put concrete in my veins
I’d always walk home alone,
So I became lifeless just like my telephone
There’s nothing to lose
When no one knows your name
There’s nothing to gain
But the days don’t seem to change
Never played truth or dare,
I’d have to check my mirror to see if I’m still here
My parents had no clue,
That I ate all my lunches alone in the bathroom
There’s nothing to lose
When no one knows your name
There’s nothing to gain
But the days don’t seem to change
There’s nothing to lose
My notebook will explain
There’s nothing to gain
And I can’t fight the pain
Teacher said it’s just a phase,
When I grow up, my children will probably do the same
Kids just love to tease,
Who’d know it put me underground at 17
There’s nothing to lose
When no one knows your name
There’s nothing to gain
But the days don’t seem to change
There’s nothing to lose
My notebook will explain
There’s nothing to gain
And I can’t fight the pain…

Billy Talent. Nennt man das guten Krach? Heute nennt man das Mainstream, aber jeder Mainstream war auch mal ein Außenseiter. Sind kreative Filme eigentlich auch Außenseiter? Bin ich einer? Was ist denn bitte gewöhnlich? Du? Ich? Was heißt gewöhnlich? Dass ich mich daran gewöhnen kann? An was? Mich? Nein. Kann ich nicht. Ich bin hier falsch. Ihr seid falsch, aber ihr nennt das richtig. Ihr nennt falsch, wo ich richtig bin. In dieser anderen Welt. Aber “Welt” kann man das doch auf keinen Fall nennen, nicht wahr? Sind doch nur Tasten. Immer auf den Bildschirm. “Du machst dir die Augen kaputt, Junge! Geh ins Bett, es ist schon spät!” – “Ja, Mama.” Ich meine nein. Immer. Ja ist nein, nein ist ja, wichtig wird verschwiegen, unwichtig auch. Wer redet, redet zuviel. Das macht Krach. Schlechten Krach. Das mag ich nicht.

“Ben X” ist ein Spiegelkabinett. Überall sind Spiegel. Alle außenseitig, nach innen zeigend. Überall um einen herum. Und jeder anders. Schief, schräg, krumm, gerade. Einer zeigt was wirklich ist. Ein anderer zeigt, was ich sehen will. Was ich nicht sehen will, bin ich. Versager. Null. Was ich sehen will, ist der da. Ich, dieser Reiter. Rüstung, Schwert, etwas Gold, alles dabei. Es kann losgehen. Jeden Tag, wann immer ich will.

Was Computerspiele angeht, sind “normale” Menschen Außenseiter. Wer nie gespielt hat, kann das nie verstehen. Wie kann man auch nur so ewig lang davor hocken. Furchtbar. Das ist doch nicht echt. Das kommt doch alles aus dem Computer. DU. BIST. SÜCHTIG. Ach… ich? Nach einer Welt? Ja. Jeder liebt es zu leben, es kommt ganz darauf an wo. Welche Welt ist denn DIE Welt? Glückliches Leben heißt nicht immer HIER, sondern auch mal dort, eben da, hinter dieser Glasscheibe, IN dieser Glasscheibe. Siehst du das? Da bin ich. Ich stehe dort, bestehe aus Polygonen, sichtbar in Pixeln, berechnet aus Zahlen. Endlos viele Zahlen. 1 und 0. Eure Welt und meine Welt. Und vielleicht ist meine Welt ehrlicher zu mir.

Autisten sind verschlossen. Und geöffnet für alles. Wie kommt man da rein? Zu komplex. So wie ein Computerspiel vielleicht… Computer-Außenseiter sehen Computer abstrakt. Immer schön distanziert bleiben, oder? Wer hat schon mal sowas wie “Nein, ich versteh das nicht… Das ging mir zu schnell” gehört? Aha. Verstehen besteht immer aus Interesse. Autisten sind auch zu komplex. Denen geht alles zu schnell. Wir verstehen das nicht. Wir sehen nur diese abstrakte Person. Marsmensch. Nicht von hier. Interessiert uns das? Interesse kostet Zeit. Vielleicht ist es garnicht so falsch, ein Computerspiel als Spiegel des Autisten zu sehen, als materielles Gegenstück zur menschlichen Person. Innen komplex, von außen nicht zu verstehen. Wie auch? Er sagt ja nichts. Aber wie heißt es so schön? Der Computer ist nur so schlau wie sein Benutzer. Und wenn das Verstehen und Erlernen dieses komplexen Systems zu anstrengend ist, warum sollten andere dann nicht darauf spucken? Erniedrigen ist ja immer einfacher als erheben. So wie ich der Mächtige im Spiel bin, so sind sie, die Peiniger, die Mächtigen in ihrem Spiel. Und ihr Spiel heißt “Macht ihn fertig”. Ja, ich bin der Schwächling, wie sollte ich mich auch wehren? Ich weiß nicht wie. Ich würde mich ja gerne umbringen, aber ich weiß nicht wie. Ich kenne jeden Weg in meiner Fantasiewelt, aber keinen hier draussen.

Und ich kenne keinen Film, der diese drei Themen (Autismus, Mobbing und Flucht-in-den-Computer) so intelligent, kreativ, ehrlich und mitreißend verwebt wie “Ben X”. Es geht nicht NUR um Autismus, oder NUR um Mobbing. Es geht um alles. Um uns, unsere Generation, die Zeit in der wir jeden Tag leben. Ben X = Generation X? Wir, die wir die Lust an gegenseitiger Akzeptanz und Verständnis für einander verloren haben. Politiker wettern aus weiter Distanz über Onlinesucht und Killerspiele, ohne selbst die Berührungsängste loszuwerden. Schüler mobben Mitschüler, die nicht normal sind, am besten gleich noch aus Spaß. Später heißt es dann “Wir haben damit gerechnet. Es war abzusehen, dass er sich zu einer tickenden Zeitbombe entwickelt, die jeden Moment hochgehen kann”. Dumm ist, dass wir alle an diesen Bomben mitbasteln. Klar, wieso sollte man auch Interesse zeigen? Warum sollte man soviel Zeit investieren, sich um das alles zu kümmern? Wer hat denn heute noch Zeit? “Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns” ist doch da viel einfacher. So wie Außenstehende Ben bzw. Computerspiele nicht begreifen, begreift Ben uns nicht. Was ist also logischer, als beide Bilderwelten aufeinanderprallen zu lassen, ineinander zu verschmelzen, um Zugang zu beiden Welten zu kriegen? Keine Anstrengung, alles ist auf dem Bildschirm, wir müssen nur hingucken. Und mitfühlen. Und mitbangen. Und lächeln. Und weinen. Und verstehen. Vielleicht ist das einer der wichtigsten Filme der letzten 10 Jahre, weil er so gekonnt mit einem Thema umgeht, auf das keiner so wirklich Lust hat. Wie kann man das als “langweilig” abtun?

Und das Ende: Nein, es ist keinesfalls doof. Es ist einfach nur logisch. Eine andere Lösung könnte es garnicht geben. Alles was Ben braucht ist Heilung, und die Heilerin seiner eigenen Welt hat er gefunden. Sie hat ihn gefunden. Und wenn man mit “heilen” eigentlich “lieben” meint, dann hat das rein garnichts mit Kitsch und Pathos zu tun. Ben kann nicht anders, als sie so für sich zu behalten wie er es tut. Es ist ja nicht so, dass “Ben X” uns hier den frischgebackenen (Friede, Freude,) Eierkuchen in den Rachen schiebt oder Opferschablonen zum Selber-Ausmalen verteilt. “Ben X” sagt: “Siehst du den da? Das bist du. Oder dein Freund. Oder jemand, den du flüchtig kennst. Oder wenigstens mal gesehen hast…”, und dann fragt er dich: “Ganz ehrlich – bist du ein Peiniger oder ein Heiler?”

Den Kommentar findet ihr übrigens hier

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