Eigentlich wäre der heutige Tag minutiös durchgeplant gewesen, wollte ich doch den dritten Tag auf der Berlinale mit zwei Unsichtbaren aus der Generationen Sektion verbringen. Einmal mit der kleinen, sechsjährigen Cathy aus Auf leisen Pfoten, die sich unsichtbar fühlt, weil sie von ihrer Eltern kaum beachtet wird. Danach hätte ich mich mit dem Superhelden Griff the Invisible in die dunklen Gassen von Sidney begeben, um mit ihm auf Verbrecherjagd zu gehen. Ein Film, der mich seit der ersten News, die ich über den Film schrieb, faszinierte. Versprach er doch ein Bruder im Geiste von dem mir sehr geschätzten Defendor zu sein.
Eine Intuition, ich würde fast behaupten Eingebung, ließ mich aber in letzter Minute umdisponieren und Auf leisen Pfoten durch Totally True Love ersetzen. Einen Film, von dem ich nichts gehört und nichts gesehen hatte, aber zwei vage Zeilen einer Inhaltsangaben reichten, um mich neugierig zu machen. Und das sollte sich als meine vielleicht beste Entscheidung der gesamten Berlinale erweisen.
Totally True Love – Ist Amélie Poulain in Wahrheit Norwegerin??
“Warum müssen Mädchen stets Prinzessinnen sein, Jungs dagegen dürfen immer Wikinger spielen?” fragt sich die zehnjährige Anne am Anfang des Films, während eine Schar von Kindern als Wikinger verkleidet in brachialster Schnitt- und Kameraästhetik durchs Bild marschiert. Alles wirkt, als hätte Ridley Scott einen archaisches Monumentalepos zur Zeit der Wikinger gedreht, garniert mit einem Score, der dem in Nichts nach steht. Am Ende dieser Sequenz sieht der Zuschauer eine kleine Anne, wie sie als einziges Mädchen im Wikingerkostüm von den anderen “Wikingern” ausgelacht wird.
Jørgen + Anne = Sant – so der norwegische Originaltitel von Totally True Love – nimmt sich die Freiheit und wirft alle Genres in einen Topf wie diese Eröffnung sehr gut beweist. Im Kern ist der Film eine einfache Coming-of-Age Geschichte, die sich der Liebe zwischen Zehnjährigen widmet. Das macht er mit einer solchen Unaufdringlichkeit und auch einem Verständnis für seine Charaktere, dass der Zuschauer sehr schnell vergisst, dass er das Liebesspiel von Kinder beobachtet. Die Regisseurin Anne Sewitsky macht sich nie über ihre Figuren lustig. Nicht “ob”, sondern “wie” Zehnjährige Liebe empfinden wird hinterfragt und das auf eine Weise, die einem dahinschmelzen lässt.
Es geht um die erste große Liebe, die das Innerstes – wie Anne so schön ausdrückte – zum Zucken bringt. Im Laufe des Films konfrontiert die Geschichte den Zuschauer mit einigen Kindheitsfantastereien, Spukgeschichten und Flashbacks, die allesamt andere Filmgenres auf genüssliche Art und Weise zitieren. Besonders lässt sich der Einfluss von Jean-Pierre Jeunet erkennen. Der ganze Charakter von Anne und auch wie sie dem Zuschauer ihre Welt beschreibt, erinnert häufig an den Franzosen, sei es sein Kurzfilm Foutaises oder auch Die fabelhafte Welt der Amélie.
Anne erklärt einfach und unverblümt, was sie mag, was sie nicht mag und wenn sie sich schließlich in ihren Tagträumen verliert, ist der Brückenschlag zu Amélie Poulain komplett. Ein bezaubernder Film irgendwo zwischen französischer Leichtigkeit, norwegischer Schwermut und einer großen Portion betörender Schauspielführung. Wie die Regisseurin ihren kleinen Darstellern Glaubwürdigkeit entlockt, verdient eine eigene Preiskategorie. Wer es schafft, sich auf die Gefühlsebene einer Zehnjährigen einzulassen, findet mit Totally True Love seine erste uneingeschränkte Empfehlung der Berlinale!
Warum der halbe Kinopublikum aus Kindern bestand und warum sich diese nach dem Film nicht mehr halten konnten, als die beiden Hauptdarsteller sich ihren Fragen stellten, könnt ihr dem Podcast entnehmen.
Griff the Invisible – Australischer Antiheld
Griff the Invisible ist ein Independent Superheld wie er im Comicbuche steht. Ohne besondere Fähigkeiten, aber einem ausgeprägten Drang, die eigene Stadt zu beschützen. Er sieht sich in der Verantwortung und in der Pflicht, die ihm gegebenen “Talente” zu nutzen, um Verbrecher unschädlich zu machen. Seine Wohnung ist ein High-Tech Batcave und seine Erfindungen technische Meilensteine. Zumindest aus der Sicht von Griff. Denn Griff the Invisible als Film lässt dem Zuschauer die Wahl. Er zeigt beide Seiten der Medaille. Die Welt von Griff, in der er ist wer er sich fühlt, ein Superheld mit unglaublichen technischen Möglichkeiten und Gadgets. Oder einfach nur Griff, ein sozialer Außenseiter, der keine Freunde hat, ständig gemobbt wird und dem sein Drang, unsichtbar zu sein, mehr schadet als hilft.
Der Film erinnert von Anfang bis Ende an Defendor, einen anderen Indie-Superheld aus den USA, in der Woody Harrelson einen ähnlichen Charakter spielt. Doch Defendor als Charakter wird überwiegend als geistig verwirrt betrachtet, dem die Welt helfen muss, weil er ansonsten früher oder später sich oder andere gefährdet. Griff the Invisible dagegen wird Griffs Zustand nicht definiert und hütet sich davor, ihm einen psychologischen Stempel aufzudrücken. Stattdessen wollte Regisseur Leon Ford zeigen, dass nicht immer der Drang nach Normalität, sondern nach einer ausgeprägteren Form von Ungepasstheit solche Geschichten prägen können. Denn als Griff ein Mädchen trifft – ihr ahnt es sicher – und die beiden über Umwege zusammenkommen, finden beide ihre Erlösung in ihrem Außenseiterdasein.
Wie ich mein Herz in beide Hände nahm und den Regisseur und die Hauptdarstellerin nach den psychologischen Hintergründen fragte, könnt ihr im Podcast erfahren.
Die Dinge, die kommen werden
Morgen steht bei mir wieder der Wettbewerb auf dem Plan. Die Berlinale gibt sich dann voll und ganz dem 3D-Trend hin und zeigt gleich drei Filme auf einen Schlag als Wettbewerbsbeiträge. Zwei davon jedoch außer Konkurrenz, die gleichzeitig von zwei der renommiertesten deutschen Regisseuren überhaupt stammen. Die Tanz-Dokumentation Pina von Wim Wenders und die Höhlen-Dokumentation Die Höhle der vergessenen Träume von Werner Herzog. Dazu gesellt sich noch der Animationsfilm Les contes de la nuit, der sich der Ästhetik des asiatischen Schattentheater bedient, was bekanntlich nicht unbedingt für ihre Dreidimensionalität bekannt ist, aber gerade darum ein Grund ist, sich die Sache etwas genauer anzusehen, von Wenders Hommage an die Poesie der Tanzkunst und Herzogs Versuch Tiefen vorzudringen die noch keine 3D-Linse zuvor erfasste, nicht zu reden.
Vergesst nicht, auch Stefans Erkenntnis Hilfe ich bin eine Minderheit zu lesen und auch in den heutigen Podcast rein zu hören.
Der Berlinale-Podcast – Tag 3
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