Der Ida-Nachfolger Cold War ist der erste Favorit beim Festival Cannes

12.05.2018 - 10:30 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Cold War
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Cold War von Pawel Pawlikowski mausert sich zum ersten Palmen-Favoriten beim Festival Cannes, während Jia Zhangke mit Ash is Purest White eine Liebesgeschichte mit Gangstern und den Village People vorlegt.

"Du wusstest beim Sehen, das ist ein Klassiker", entfuhr es dem Kinobesucher in der Reihe vor mir in der Pausenzeit zwischen Vorstellungen. In den filmfreien Minuten werden Netzwerke eingefädelt, Geheimtipps ausgetauscht und die brandneuen Palmenfavoriten tuschelnd erkoren. Der Erste beim Festival Cannes in diesem Jahr heißt Cold War und wurde von Pawel Pawlikowski inszeniert, dessen schwarz-weißes Drama Ida 2015 mit dem Oscar für den Besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Cold War kommt nun weniger streng daher als Ida - Nonnen werden durch Musiker ersetzt - das Academy-Format und die Schwarz-Weiß-Bilder sind geblieben. Mir erging es zwar anders als dem oben zitierten Herrn, für eines würde ich Pawlikowski schon jetzt einen goldenen Palmenwedel überreichen: Cold War ist unter 90 Minuten lang. Wie der polnische Regisseur, dessen Karriere in Großbritannien begann, beschäftigt sich der Chinese Jia Zhangke (A Touch of Sin) mit einer Jahrzehnte umspannenden Liebesgeschichte. Mit der glühenden Liebe in Ash Is Purest White und dem Kalten Krieg zwischen Warschau und Paris nimmt der Wettbewerb von Cannes langsam Fahrt auf - während YMCA von den Village People aus dem metaphorischen Autoradio dröhnt. So viel ist schon klar: Jias Liebe für grenzdebile Popmusik kann Leben retten.

Cold War schildert eine schicksalhafte Liebe zwischen Volksliedern und Jazz

Die Programmplanung eines Filmfestivals wird vom Besucher meist aufs Pragmatischste heruntergebrochen. Die wichtigste Frage lautet hierbei: Habe ich genügend Zeit, um einen brandheißen Espresso in meine Kehle zu schütten, bevor ich mich in die nächste Schlange einreihe? Ihre filigranen Details werden ob des Zeitdrucks und der verbrannten Speiseröhre häufig übersehen. So zum Beispiel die eleganten Übergänge zwischen den Wettbewerbsfilmen, die selbst eine kleine Geschichte erzählen. Etwa von Summer, dem neuen Film des derzeit unter Hausarrest stehenden Regisseurs Kirill Serebrennikov. Es ist eine Ode an die Leningrader Rockszene der 80er Jahre, in einem körnigen Schwarz-Weiß gehalten. Wenig passiert in dem Zweistünder, reduziert man ihn auf den Plot, und gleichzeitig alles: Liebe und Kunst, die zur Geburt der russischen Band Kino führen. Die Mächte der Programmatik ermöglichen in Cannes einen Übergang zwischen den in teils kaum bemerkten Plansequenzen eingefangenen Musikszenen in der Sowjetunion der 80er Jahre und dem Polen des Jahres 1949. Da entdeckt Wiktor (Tomasz Kot) bei einem Vorsingen für einen folkloristischen Chor die jüngere Zula (Joanna Kulig). Wirren und Wandel der Nachkriegszeit, des Stalinismus und des Tauwetters werden sie in den kommenden Jahren durchleben, in Warschau, Berlin oder Paris. Es ist eine schicksalhafte Liebe, daran besteht kein Zweifel, auch wenn Geschichte und Charakter sie ein ums andere Mal auseinanderreißt. Denn es muss gesagt werden: Letztendlich sind es die Entscheidungen des Pianisten und der Sängerin, die sie auf die episodische Reise durch Europa schicken. Es ist nicht das Regime, das den Takt vorgibt. Jedem leidenschaftlichen Wiedersehen ist die Trennung schon eingewoben.
Cold War

Wo Summer seinen Musikern mit verträumter Geduld durch Konzerte, Partys und ins Tonstudio hinterherschwärmt, arrangieren Pawlikowski und seine Ko-Autoren klar getrennte Episoden aus dem Leben der Liebenden, die viele Jahre in kürzester Zeit kristallisieren. Diszipliniert ist das in erster Linie, auch in der Inszenierung. Die wohl beeindruckendste Szene des Films zeigt den ehemals an folkloristischem Liedgut aus allen Ecken Polens geschulten Chor, der auf Weisung der Führung nun Lieder über Agrarreformen trällern muss. Über den Köpfen der Sängerinnen breitet sich der riesige Schnauzer Stalins auf einem ausgerollten Banner aus. Dialogszenen werden ähnlich eingefangen: einsame Gesichter in der unteren Bildhälfte, mit einer Genauigkeit platziert, die Zirkel und Lineal vermuten lassen. Während die Geschichte von Zula und Wiktor auch eine über den verzehrenden Versuch ist, die eigene Identität im ständigen Wandel zu wahren, unterliegt Cold War einer unsichtbar sichtbaren Kontrolle. Man wird das Gefühl nicht los, jeder Pfad ist en detail vorgezeichnet und müsse nur noch betreten werden. Spielraum für Ausbrüche, fürs Chaos, das zwei aufeinanderprallende Menschen nun mal verursachen, eröffnet sich nur selten. Die Erfahrung, einen Klassiker vor sich zu haben, kommt indes nicht von ungefähr: Cold War bemüht sich, wie einer auszusehen.

Jia Zhangkes teuerste Produktion ist ein Drittel Gangsterfilm

Während Wiktor zu Beginn von Cold War das Liedgut der ländlichen Bewohner Polens aufnimmt, ist es in Ash is Purest White der Kodex der Unterwelt, Jiang Hu, der stellvertretend für die althergebrachten Werte steht. Er gebietet Qiao (Zhao Tao), nicht tatenlos zuzusehen, als ihr Mann Bin (Liao Fan) von gegnerischen Mobstern zusammengeschlagen wird. Zwei Schüsse fallen und Qiao muss fünf Jahre ins Gefängnis. Insgesamt werden knapp zwei Jahrzehnte in Ash is Purest White vorüberziehen, in denen sich China dramatisch wandelt. Dabei kehrt Jia Zhangke zu Motiven und Orten aus Still Life zurück, in dem er die Auswirkungen des Baus der Drei-Schluchten-Talsperre auf die umliegenden Menschen und Städte beobachtet hatte.

Überhaupt fühlt sich Ash is Purest White manchmal wie eine Rekapitulation des Werks des chinesischen Meisters an. Er befindet sich schließlich an einem Wendepunkt seiner Karriere. Da ist es Zeit zurückzublicken. Sein bisher teuerster Film wurde im Vorfeld als Schritt gen Mainstream angekündigt. Erinnerungen an Zhang Yimou werden wach, Speerspitze der sogenannten Fünften Generation, der in der Großproduktion Hero die kleinen Leute seiner Anfangsjahre zurückließ, um ein teures Schwertkampfballett zu inszenieren. Jia Zhangke, bekanntester Vertreter der Sechsten Generation, ist von dieser Art "Mainstream" noch weit entfernt.

Ash is Purest White

In A Touch of Sin gibt es eine Szene in einem Fernbus, in dem eine Shootout-Sequenz aus Exiled von Johnnie To über die kleinen Monitore wirbelt. Einer der Fahrgäste ist ein echter Auftragskiller, dessen Taten die Eleganz des heroischen Blutvergießens Lügen strafen. Der Umgang mit den Gangster-Elementen in Ash is Purest White folgt dieser Kluft zwischen Inszenierung und Realität. Unterstützt wird das durch den Soundtrack von Balladen der Marke Sally Yeh und, ja, auch den Village People. Nur ein Moment im Film bildet eine Brücke: Da sehen wir in einer Plansequenz, wie Bins mit einem Handtuch umwickelte Faust das Fenster seiner dunklen Limousine durchbricht und einen Handlanger niederschlägt. Er steigt aus, rammt seinen Fuß in die Brust von Gegnern, teilt rechte Haken aus, prügelt sie nieder, bis er selbst überwältigt wird, sein Kopf krachend auf dem Lack landet und der Blick sich auf Qiao richtet, die schockiert auf dem Rücksitz zuschaut. Es ist eine Szene, die ebenso gut in den Straßen von Hongkong stattfinden könnte, die vor Macheten schwingenden Triadenbanden nur so wimmeln (habe ich im Kino gelernt). Gleich darauf wird sie jedoch durch die Realität des chinesischen Waffengesetzes gebrochen, das Jia dem Shootout à la Exiled entgegenstellt.

Als Geschwisterfilm von Mountains May Depart stellt sich Ash is Purest White heraus, der ebenfalls in drei Teilen dem Wandel Chinas nachgeht. Während Jias letzter Film dafür in die Zukunft sprang, erreicht "Ash" einen ähnlichen Effekt durch die chinesische Realität. Der Film beginnt mit Dokumentaraufnahmen in einem Bus, die Jia 2001 gedreht hat und endet mit Hochgeschwindigkeitszügen und nebeneinander gestapelten Apartmentblocks, von oben gefilmt, als fliege ein Alien vorbei, das seinen sieben Augenpaaren nicht trauen kann, so sehr hat sich die Welt verändert. Irgendwo da unten lebt Qiao, die aus dem Gefängnis kam und nach ihrem Liebhaber suchte, der bereits ein anderes Leben führte. Nur Qiao bleibt gleich, was sie in diesem China zu einer tragischen Heldin macht.

Es ist nicht der Typ Film, der einen beim ersten Schauen zum Klassiker-Etikett verleitet und beim zweiten Mal wohl auch nicht. Still Life bietet sich im Jia-Kanon an. Unbändig gestaltet sich Ash is Purest White besonders zum Ende hin. Es ist einer jener Filme, die ihren Höhepunkt erreichen und danach ein Bild nach dem anderen auffahren, das ihre Essenz festhält, in unterschiedlichen Dosierungen. Jedes Mal erwartet man den Abspann, doch noch eine Szene schließt sich an und noch eine und noch eine, bis die Intensität des Höhepunkts verblasst. Die Glut ist erkaltet. Die Zeit läuft weiter. Qiao bleibt stehen.

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