Zum ersten Mal stieß ich auf Grey’s Anatomy – Die jungen Ärzte während eines Auslandsaufenthaltes in Spanien. Auf Grund meiner zu dieser Zeit noch recht rudimentären Sprachkenntnisse, konnte ich nur etwa 40% der Dialoge verstehen. Wie gut, dass sich die US-amerikanische Arztserie nicht primär durch einen komplexen Handlungsverlauf auszeichnet. Die gute Filmmusik zeigte mir zuverlässig an, ob es spannend, lustig oder traurig zuging und zog mich somit eher emotional als intellektuell in ihren Bann.
Sex in the City im OP-Dress
In Deutschland entdeckte ich die Serie dann mit dem Titelzusatz „Die jungen Ärzte“ wieder. Beim Start der ersten Staffel im deutschen Fernsehen 2006 machte dieser Name sehr viel Sinn: Eine Gruppe junger Assistenzärzte der Chirurgie kommt von der Universität ans Seattle Grace Hospital, wo sie sich nicht nur mit beruflichen, sondern auch mit privaten Herausforderungen konfrontiert sieht. So beginnt der Arbeitsalltag der zentralen Figur Meredith Grey, gespielt von Ellen Pompeo, mit der Erkenntnis, dass ihr One-Night-Stand vom Vorabend, Derek Shepherd (Patrick Dempsey), ihr neuer Vorgesetzter ist. Es braucht fünf Staffeln, viele Dramen und Tränen, bis die beiden endlich zueinander finden. Aber das Leben der anderen Charaktere ist nicht weniger turbulent: Da gibt es die von Sandra Oh verkörperte Cristina Yang, die von ihrem Verlobten vor dem Traualtar sitzen gelassen wird, oder die Orthopädin Callie, die nach ihrem Eheaus eine lesbische Beziehung mit einer Kinderärztin eingeht.
Ja, das klingt alles mehr nach Soap Opera als nach einer Arztserie. Das Schöne dabei aber ist, dass Grey’s Anatomy – Die jungen Ärzte mit diesem Image offen und ehrlich umgeht. Schon der Vorspann, in dem Arztkittel sich in Abendkleider verwandeln, deutet daraufhin, dass wir es hier nicht mit einer actionreichen Krankenhausserie á la Emergency Room – Die Notaufnahme zu tun haben, sondern eher mit einer Sex and the City Version im OP-Dress. Tatsächlich haben die Kultserie um die Kolumnistin Carrie Bradshaw (Sarah Jessica Parker) und Grey’s Anatomy – Die jungen Ärzte viel gemeinsam: Durch beide Serien führt das Voiceover der Hauptfigur und in beiden Serien spielt Sex eine zentrale Rolle. „Chirurgie ist eigentlich ziemlich sexy“, sagt Grey’s-Schöpferin Shonda Rhimes, „Man steckt seine Hände in den Körper eines anderen.“ Deshalb braucht ihr für Grey’s Anatomy – Die jungen Ärzte auch weniger starke Nerven als viel mehr eine Packung Taschentücher. Aber ist das schlimm? Die Die Schwarzwaldklinik hat doch auch keiner wegen der detaillierten Falldarstellungen, sondern wegen Dr. Brinkmanns freundlichem Lächeln gesehen!
Chirurgie ist hardcore
Ich möchte aber doch den Kritikern widersprechen, die meinen, Grey’s Anatomy – Die jungen Ärzte sei ausschließlich seichte Unterhaltung für gefühlsduselige Frauen. Spätestens das Finale der 6. Staffel, in dem ein Amokläufer das Krankenhaus über zwei Folgen in Angst und Schrecken versetzt, hat gezeigt, dass Shonda Rhimes auch eine Menge Action in petto hat. Für die ehemalige Krankenhauspraktikantin ist die Abteilung der Chirurgie „machomäßig, lebensfeindlich, hardcore“. Das sind Begriffe, die mit dem Soap Opera Image nichts mehr zu tun haben. Meredith und ihre Kollegen retten nicht nur Menschenleben auf dem OP-Tisch, sondern geraten selbst immer wieder in lebensgefährliche Situationen. Insbesondere die Figur des Dr. Hunt, der zuvor als Militärarzt im Irak gedient hat, verpasste der Serie in der 5. Staffel eine Testosteron-Spritze.
Das Erfolgsgeheimnis der Serie liegt genau in dieser Mischung von Herzschmerz und Action. Auf der Bühne des Lebens wie auch bei Grey’s Anatomy – Die jungen Ärzte spielen sich mannigfaltige Dramen ab. Es geht ebenso um Liebe und Eifersucht wie auch um Leben und Tod. Die Autoren der Serie schaffen es immer wieder, zwischen diesen Schauplätzen gekonnt eine Brücke zu schlagen.
So kann Frau die wöchentliche Dosis Grey’s Anatomy – Die jungen Ärzte zu kathartischem Heulen nutzen, während Mann sich dafür begeistert, wie Dr. Hunt im Stil von McGyver mit Kaugummis offene Brüche schient.