97 verstörende Minuten auf Netflix: Die größte Kultfigur meiner Kindheit bereitet mir jetzt Alpträume

04.09.2021 - 09:00 UhrVor 1 Jahr aktualisiert
Heike Makatsch und die Hipster-Schergen in Benjamin BlümchenSTUDIOCANAL
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Helden der Kindheit bleiben am besten unberührt. 97 Minuten auf Netflix bedeuten nämlich manchmal den Unterschied zwischen herzlicher Erinnerung und absurdem Alptraum.

König der Löwen, Avatar oder Der neue Prinz von Bel-Air mit Will Smith-Nachfolger: Die Kultfiguren vieler Kinder von einst wurden oder werden immer wieder fürs Kino in frische Gewänder gehüllt. Was Zeichentrick war, wird dabei mit Blick auf den Zeitgeist gerne in CGI verwandelt. Das bizarrste Resultat dieser Entwicklung ist jetzt auf Netflix: Benjamin Blümchen dreht mit 97 Minuten Green Screen-Wahnsinn meine Kindheit durch den Fleischwolf.

Schaut euch hier den Trailer zu Benjamin Blümchen auf Netflix an:

Benjamin Blümchen - Trailer (Deutsch) HD
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Benjamin Blümchen auf Netflix ist ein bizarrer Trip für jeden Fan

Im ersten Realfilm der beliebten Kultfigur bedroht ein windige Geschäftemacherin (Heike Makatsch) Benjamins Zoo. Die Storyline ist nicht unbedingt neu: Seitdem 1977 der Startschuss für die beliebte Hörspielserie fiel, musste Benjamins Heimat regelmäßig vor brachialen Baumaßen oder profitgierigen Politikern beschützt werden.

Benjamin Blümchen als animierte Figur

Mir war diese Wiederholung aber immer egal. Im Alter von fünf Jahren war Benjamin Blümchen das kleine, warme Zentrum meines Universums: Eine heile Welt voller netter Menschen, paradiesischer Natur und spannenden Abenteuern. Selbst die windigen Geschäftemacher mussten einfach nur mal feste geherzt werden. Manche Kinder schauen fern, ich lag auf dem kratzbürstigen Sofa meiner Großmutter und hörte auf einem alten Kassettenrekorder Benjamin auf Dauerschleife.

Fast 30 Jahre später habe ich mich damit abgefunden, wie weit Realität und Kinderhörspiel auseinanderliegen: Elefanten können nicht sprechen, nicht jeder hat gute Absichten und Zoos sind – nun ja, eben Zoos. Aber auch drei Dekaden Lebenserfahrung konnten mich nicht auf das einzigartig unwirkliche Netflix-Erlebnis des ersten Benjamin Blümchen-Realfilms vorbereiten.

Die CGI-Effekte machen Benjamin Blümchen zu einem unwirklichen Rausch

Bei dem Begriff schwingt gleich schon das auffälligste Problem des Films mit: Der exzessive Gebrauch von CGI in jeder Szene lässt die Schauspieler aus dem Bild herausstechen wie Zuckerstückchen aus Elefantendung. Und es ist leider nicht das Ich-sehe-alle-Barthaare-an-Simbas-Schnauze-CGI sondern eher die Es-sind-die-90er-und-wir-brauchen-Hintergründe-für-ein-Eurotrance-Musikvideo-Variante.

Benjamin und Otto

Zur günstigen Computertechnik gesellen sich perspektivisch eigenwillige Green Screen-Hintergründe, die meist mit keinerlei Interaktion gewürdigt werden. Dazu gibt es ein Farbschema, das den Zuschauer beim Anblick der Schauspieler eher an Lachs, Solarium-Dauerläufe oder Krebsrudel in kochendem Wasser denken lässt als einen gesunden, menschlichen Teint.

Benjamin Blümchen-Schauspieler geben schön schrille Leistungen ab

Das hat manchmal auch überraschend tolle Effekte: Während ich mir die meiste Zeit einfach sprachlos das psychedelische Staffagen-Update meiner Kindheit um die Ohren hauen lasse, kommt durch die Spielwut mancher Darsteller die reinste Freude auf – und die knalligen Bonbon-Farbtöne sind da genau das richtige: Die bestens aufgelegte Heike Makatsch wirkt mit ihrer schrillen Ausstrahlung fast wie eine kindergerechte Effie Trinket (The Hunger Games), die Kinder aber lieber ihre Zoos austreibt als sie in den Tod zu schicken.

Nichtsdestotrotz bleibt Benjamin Blümchen ein sehr surreales Wiedersehen mit meiner Kindheit. Der Look des Films ist einfach derart künstlich, dass Figuren wie Otto oder Karla Kolumna (Liane Forestieri) durch das Hauptmenü eines alten Videospiels oder eine ehrgeizige Joghurtwerbung zu schlendern scheinen.

Zora Zack mit Herrn Tierlieb und dem Neustädter Bürgermeister

Ich versuche mir dabei den Arbeitsalltag von Thun, Gelke oder Makatsch vorzustellen, die mit starrem Colgate-Grinsen in eine grüngetünchte Leere starren und einen imaginären Elefanten beschwatzen. Es ist ein Alptraum: Kaltes Studiolicht statt Sonnenschein. Monitore statt sonnigen Hügeln. Lass gut sein, Matrix 4. Benjamin Blümchen tritt mich jetzt schon den Kaninchenbau hinunter! Ganz ohne Keanu Reeves und Mega-Budget.

Natürlich ist das mittlerweile Standard bei Filmdrehs, aber für meine Kindheit gelten einfach andere Regeln. Bei allem Witz und aller Liebe zu abgefahrenen Filmerlebnissen: Die Produzenten des Films hätten sich bei dessen optischem Konzept einfach mehr Mühe geben sollen, das lässt sich nicht anders sagen.

Benjamin Blümchen gibt mir auf Netflix mit absurden Story-Einfällen den Rest

Aber während ich noch mit dem pappsüßen Nachgeschmack der künstlichen Dickhäuter, Photoshop-Kulissen und psychedelischen Farbgebung kämpfe, prasselt eine grelle Drehbuch-Idee nach der anderen auf mich ein und ich lasse mich von ihnen langsam in ein Reich stillen Wahnsinns geleiten.

Otto und Benjamin in Einbrecher-Outfits

Eine mobile Einsatzzentrale, die aussieht wie ein doppelstöckiger Rasierer. Zwei Hipster-Vasallen namens Hans und Franz, die ständig zwischen Hoverboard und Insta-Story unterwegs sind und etwa so authentisch jugendsprachlich reden wie ein Langenscheidt-Lexikon. Benjamin Blümchen mit Snapback und Baggies. Benjamin Blümchen als Einbrecher in einem direkten Mission:Impossible-Filmzitat. Benjamin Blümchen, ausgeknockt durch K.O.-Tropfen.

Gut oder schlecht sind ab diesem Punkt keine Kategorien mehr. Ich fühle mich eher gefangen im Auge eines Sturms oder durch Stahlbügel in den Sitz einer Achterbahn gepresst, die gemächlich und rasselnd einen steilen Hügel hinaufgezogen wird.

In einem Zustand wahnsinnigen Gleichmuts mit aufgerissenen Augen und irrem Grinsen kralle ich mich ab da einfach in meinem Sitz fest und frage mich nur noch, was hier eigentlich abgeht. Quasi die Grundhaltung eines jeden Erwachsenen. Danke dafür, Benjamin Blümchen, Held meiner Kindheitstage.

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Was haltet ihr vom Benjamin Blümchen-Realfilm?

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