Warum das Publikum keine Lust mehr auf Sequels hat

15.06.2016 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Zuschauerschwund: Alice im Wunderland – Hinter den Spiegeln
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Zuschauerschwund: Alice im Wunderland – Hinter den Spiegeln
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Glaubt man den schlechten Einspielergebnissen vieler aktueller Fortsetzungen sowie den Analysen von Branchenmagazinen, steckt Hollywood in einer Krise. Hat sich das Publikum an der ewig gleichen Auswahl des Blockbuster-Marktes satt gefressen?

Es ist natürlich nicht originell, das US-Mainstreamkino der Gegenwart für seine Innovationsarmut zu rügen. Klagelieder über den Fortsetzungswahn, über Remakes und Reboots, Sequels und Prequels, sogenannte Reimaginings oder die Marvelisierung Hollywoods haben einen langen Bart bekommen – und erinnern, je nach erhöhter Tonlage, an den schon immer beschworenen Untergang des Kinos: Der Sprach-, Farb- oder 3D-Film, das einst New Hollywood ablösende Blockbuster-System und die Digitalisierung des Kinos sind filmhistorisch gesetzte Marken, an denen die zeitgenössische Kritik ebenso wie Skeptiker innerhalb der Industrie demonstrativ verzweifelten. Niemand findet derartigen Kulturpessimismus sexy, wenn er doch einerseits unter Verdacht steht, fortschrittsfeindlich zu sein, und andererseits an einem Publikum vorbei argumentiert, das solchen Entwicklungen ungleich aufgeschlossener gegenübersteht – oder sie gar diktiert, sofern Nachfrage tatsächlich das Angebot bestimmt.

Bei allen Vorteilen, die gestutzte Bärte mit sich bringen: An der momentanen Kritik ist vieles richtig. Ihr geht es gerade nicht darum, Erneuerungen abzusägen, sondern den Mangel an ebensolchen zu benennen. Der Wunsch nach einem wagemutigeren Hollywoodkino, nach weniger Franchise-Building und Tentpole-Strategien der großen Studios, ist Ausdruck eines Verlangens nach Veränderung. Und das Publikum scheint diese Sehnsucht, wenn auch verspätet, zu teilen. Noch spaziert es zwar fleißig in den nächsten Superhelden- und Things-Crashing-Into-Other-Things-Film , doch längst nicht mehr in jede Neuauflage der Neuauflage: Setzt sich der aktuelle Trend fort, könnte 2016 das Jahr der unter Erwartungen laufenden oder gleich komplett abgesoffenen Sequels werden – das Jahr also, in dem Kinozuschauer nicht länger gewillt sind, Geld für immer gleiche Umsetzungen immer gleicher Ideen auszugeben. Das jedenfalls zeigt die Liste mäßig erfolgreicher Fortsetzungen, die das hysterieunverdächtige Branchenmagazin Variety  zusammenstellte.

Während dieser und ein vergleichbarer, im Hollywood Reporter  veröffentlichter Artikel die Entwicklung eher nüchtern analysieren (obgleich sie eine mit "Sequelitis" hübsch titulierte Diagnose stellen), versucht sich ScreenCrush  an konkreten Erklärungen für umsatzschwache Fortsetzungen wie Bad Neighbors 2, Zoolander 2 oder Teenage Mutant Ninja Turtles 2 (die Originalität steckt hier bereits in der Titelwahl). Kernthese der Analyse ist eine Inflation des Blockbuster-Kinos als Event: Die wenigsten großen Filme hätten einen unique selling point, also ein besonderes Verkaufsargument wie etwa Star Wars: Episode VII - Das Erwachen der Macht, der mit dem Versprechen einer wiedervereinten Originalbesetzung lockte, und die kurzen zeitlichen Abstände zwischen Big-Budget-Produktionen, die man keinesfalls verpassen dürfe, nivellierten den behaupteten Event-Charakter – wenn jede Woche ein Film startet, dessen Kinoerlebnis einmalig zu sein verspricht, werde das Publikum skeptisch. So besonders ist der besondere Blockbuster vielleicht doch nicht.

Man könnte einwenden, dass selbst die verbleibenden Hauptevents selten ein Quell der Originalität und folglich Phänomene von erstaunlich kurzer Halbwertszeit sind, aber sie scheinen ihr Versprechen zumindest einen Moment lang einzulösen. Für viele Fortsetzungen gilt das hingegen nicht. Die Beharrlichkeit, mit der Hollywood ungefragte Sequels produziert, beruht auf dem Missverständnis der beliebigen Reproduzierbarkeit von Erfolgen: The Huntsman & The Ice Queen schreibt die Geschichte uninteressanter Nebenfiguren des ersten Films fort, und Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln knüpft an einen Film an, der mit Hilfe des damals noch lukrativen 3D-Effekts eher zufällig zum Hit wurde. Jeder Box-Office-Analyst konnte voraussagen, dass diese Sequels den kommerziellen Erwartungen nicht entsprechen würden, aber gedreht wurden sie trotzdem. Dass man überhaupt Filme mit anachronistischen Titeln wie Der letzte Exorzismus 2 oder God’s Not Dead 2 produziert, ist ein Kuriosum für sich (Mel Gibson arbeitet derzeit übrigens an einer Fortsetzung zu Die Passion Christi).

Blickt man auf die Liste der erfolgreichsten Filme  (also der tatsächlich erfolgreichsten und nicht derjenigen, die über neue Absatzmärkte und Scheinrekorde zu ihnen erklärt werden), ahnt man, auf welche Besonderheit des Events der ScreenCrush-Text abzielt. Es hat aus gutem Grund nie eine Kinofortsetzung zu Vom Winde verweht gegeben, zu The Sound of Music oder Ben Hur. Ihr Erfolg zielte nicht darauf ab, ein Franchise bauen zu müssen, sondern (wie es sich schon leicht vom heute geläufigen Begriff Tentpole ableiten lässt) die Industrie zu stützen und kleine, große, andere Filme zu produzieren. Nicht auszudenken, in was für ein "Cinematic Universe" man wohl versuchen würde, E.T. - Der Außerirdische einzubetten, käme der Film jetzt in die Kinos. Oder welche nicht unwahrscheinlichen Drehbuchverrenkungen in Auftrag gegeben würden, um die abgeschlossenen Geschichten von Mary Poppins, Doktor Schiwago und Forrest Gump mit Blick auf Franchise-Potenzial (und besser noch: mögliche Cross-Over) fortzuschreiben. [Nachtrag: Mary Poppins Returns kommt 2018]

Für acht der 200 einträglichsten Filme besagter Liste zeichnet das Animationsstudio Pixar verantwortlich. Mit den Fortsetzungen zu Toy Story finden sich jedoch nur zwei Sequels auf ihr – und zwar diejenigen, die als Ausnahme der jahrelang gepflegten Firmenpolitik galten, Erfolge nicht unnötig auszureizen. Toy Story 2 war deshalb lange Zeit eine Besonderheit im Pixar-Universum: Ein begründetes Sequel, das den ersten Film wie eine Fingerübung aussehen ließ. Als Pixar 2006 vom bisherigen Vertriebspartner Disney – jenem Animationsgiganten, der seine größten Hits ab den 1990er-Jahren plötzlich inflationär auf Video fortzusetzen begann – gekauft wurde, kündigte sich eine vermeintliche Kurskorrektur an. Cars 2 und Die Monster Uni wirkten daraufhin wie Kompromissprodukte, bei denen die zuverlässige Qualitätskontrolle des einen mit den Franchise-Bestrebungen des anderen Studios kollidierten. Jedes Jahr wird Disneys Pixar nun ein Sequel produzieren, von Findet Dorie über Cars 3 bis zu Die Unglaublichen 2.

Dass Hollywood mehr denn je an zuverlässigen Marken interessiert ist, hat natürlich mit einem quantitativen Bedeutungsverlust des Kinos zu tun. Laut The Atlantic  ist die Zahl der pro Person verkauften Kinotickets in den USA so niedrig wie seit den 1920er-Jahren nicht mehr – keine Überraschung angesichts der großen Konkurrenz durch Fernsehen und Video On Demand. Für jeden Dollar, den Hollywood am Box Office einnimmt, muss es heute über 60 Cent Werbung bezahlen, um das Publikum an seine Produktionen zu binden (1980 waren es noch 20 Cent). Ein Sequel wie Batman v Superman: Dawn of Justice verschlingt 600 Millionen Dollar und gilt als finanzielle Enttäuschung, wenn "nur" 870 Millionen Dollar eingenommen werden. Wie schlimm es tatsächlich um Hollywood steht, zeigen nicht zuletzt die Krisen verschleiernden Berichte über Rekordumsätze der wenigen in China startenden US-Blockbuster, von deren Einnahmen lediglich 25 Prozent an die US-Studios zurückgehen. 2017, so die Prognose , wird die Volksrepublik der umsatzstärkste Filmmarkt der Welt sein.

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