Streaming: Ein Plädoyer gegen das Binge-Watching

22.09.2017 - 09:45 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Bild zu Streaming: Ein Plädoyer gegen das Binge-Watching
20th Century Fox
Bild zu Streaming: Ein Plädoyer gegen das Binge-Watching
20
10
Eine geht noch: Streaming-Dienste veröffentlichen oft ganze Serien-Staffeln auf einen Schlag und laden zum Binge-Watching ein. Ein Plädoyer, diese mal auszuschlagen, lest ihr hier.

Die Debatte, ob Serien in einem Stück weggeglotzt oder in regelmäßigen Häppchen genossen werden sollten, mag so alt sein wie das Streaming-Zeitalter selbst. Der Begriff Binge-Watching ist angelehnt an das englische binge-drinking, das den exzessiven Konsum von Alkohol bezeichnet (hierzulande als Komasaufen bekannt). Der Begriff “binge-watching” wurde vom britischen Collin’s Wörterbuch zum Wort des Jahres 2015 gekürt. Das Wort fasse eine riesige Veränderung unserer Freizeitgewohnheiten zusammen, heißt es in der Begründung zu dieser Wahl. Das Argument fängt vielmehr den Zeitgeist ein, als dass es wertet, aber meine Meinung zu dem Thema ist eindeutig. Mein Appell lautet: Leute, lasst das Bingen sein.

Wo hört eine Episode auf, wann fängt die nächste an? Du weißt es vielleicht nicht mehr, denn entweder hat der Streaming-Anbieter deines Vertrauens direkt die nächste Folge abgespult, das Intro übersprungen, genauso wie davor den Abspann. Oder du hast es schlichtweg übersehen, als du kurz die Katze gefüttert hast, eine Flasche Limo aus dem Kühlschrank holtest oder dein Telefon auf neue Nachrichten gecheckt hast. Cliffhanger, nervenaufreibende Spannungsbögen und andere dramaturgische Griffe cleveren Storytellings verlieren an Wirkung, wenn die Wartezeit zur Aufklärung einer brenzligen Situation maximal zwei Minuten anstatt einer Woche oder, im schlimmsten Fall, ein ganzes Jahr beträgt. Ein subtiler Wortwitz wird leicht überhört, eine subtile Geste übersehen. Gerade bei wirklich toll geschriebenen Comedyserien ist das sehr schade.

Mehr: So steht ihr zum Binge-Watching

Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Bleibt ein regelmäßiger, zeitlicher Abstand zwischen den Folgen, ermöglicht das erst den Diskurs. Man kann das Gesehene sacken lassen, nachdenken, sich austauschen, abstruse Fan-Theorien spinnen oder ihnen auf den Grund gehen, und der nächsten Folge entgegenfiebern. Was wäre der Genuss von einer neuen Staffel Game of Thrones oder The Walking Dead ohne eine Woche voller Vermutungen, Memes zu den denkwürdigsten Momenten oder Spoilerwarnungen zwischen den einzelnen Episoden?

Die liebe Sucht

Bereits mehrere wissenschaftliche Studien befassten sich mit den Auswirkungen des exzessiven Serien-oder Filmschauens. Die Kommunikationswissenschaftlerin Wei-Na Lee kam im Rahmen einer Studie der University of Texas in Austin zu dem Ergebnis, dass Binge-Watching zu sozialer Vereinsamung führen kann. Die Probanden waren bereit, soziale Kontakte zu vernachlässigen, um eine weitere Folge ihrer Lieblingsserie zu gucken. Um auf dieses Ergebnis zu kommen, muss man wahrscheinlich kein studierter Wissenschaftler sein. Selten verabredet man sich mit Freunden, um eine Nacht lang Episode 4 bis 11 der 3. Staffel einer bestimmten Serie zu schauen. Dabei kann die gemeinsame Lieblingsserie ein toller Anlass sein, die besten Freunde wöchentlich aufs heimische Sofa einzuladen und kleine Rituale zu pflegen. Erinnert ihr euch an die Zeiten, als ihr mit einer Tüte Chips in der Hand vor der Tür eines Freundes oder einer Freundin standet, um sich bei einer neuen Folge Sex and the City über Carries erneut entflammende Affäre mit Mr. Big aufzuregen oder die unzähligen Rätsel zu lösen, die Lost mit jeder Folge aufwarf? Nein? Dann ladet doch einfach mal wieder zum wöchentlichen Gruppenglotzen ein, bevor ihr allzu freundschaftliche Gefühle für Jon Snow, Sheldon Cooper oder BoJack Horseman empfindet.

Damit ist die Forschung noch lange nicht ausgeschöpft. Die Forscherin Wei-Na Lee stellte fest, dass besonders Menschen mit der Veranlagung zu Depressionen und einem Mangel an Selbstbeherrschung sich dem exzessiven Serienkonsum zuwenden. Auf diese Weise können negative Gefühle zugunsten des Eskapismus in eine fiktive Serienwelt für eine Weile verdrängt werden. Eine weitere Studie der Georgia Southern State University bestätigt die These von Lee und ihrem Team. Die Wissenschaftlerin Kathrin Weeler konnte nachweisen, dass Menschen mit einer Affinität zum Binge-Watching eher unter Depressionen und Angstzuständen litten als andere Probanden. Ein Team der Universität von Toledo, Ohio untermauerte die Ergebnisse und warnt vor gesundheitlichen Risiken . Streaming-Nutzer, die täglich zwischen zwei und fünf Stunden kontinuierlich Serien (oder Filme) bei Netflix, Amazon und Co konsumieren, leiden tendenziell stärker unter Depressionen, Stress oder Angstzuständen.

Pauschalisieren kann und sollte man solche Ergebnisse selbstverständlich nicht. Nicht jeder, der sich einen Sonntagnachmittag genüsslich mit seinem Laptop aufs Sofa lümmelt und Cartoons schaut, hat ein bedenkliches Gesundheitsproblem. Manch anderer empfindet die depressive Leere erst nach dem Ende einer langen Binge-Session und dem plötzlichen Aus einer Staffel. Journalist Matthew Schneier beschreibt seinen Post-Binge-Watching Blues in der New York Times als Krankheit unserer Zeit  und findet Trost bei Gleichgesinnten im Netz. Sein Kollege Adam Sternbergh von Vulture hingegen fühlt sich schon während des Binge-Watchings elend, denn er verspürt den Zwang, eine angefangene Serie bis zum bitteren Ende durchschauen zu müssen, selbst wenn er diese unterirdisch schlecht findet. Für die lustlose, resignierende Variante des Alles-Aufeinmal-Konsumierens findet er den Begriff Purge-Watching .

Wie man am liebsten Serien schaut, ist natürlich jedem selbst überlassen. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass Binge-Watching ähnliche Nachwirkungen mit sich bringt wie der exzessive Konsum von Alkohol oder Kuchen: am Ende drohen Kopfschmerzen, Übersättigung, ein schlechtes Gewissen und ein Bad in Selbstmitleid. Auch an dem Aspekt der Realitätsflucht und Verdrängung von Verpflichtungen ist etwas Wahres dran (Spoiler: Nachdem die vollständige DVD-Box mit sämtlichen Staffeln Sex and the City durchgeschaut war, musste die Seminararbeit über polnische Renaissance-Architektur trotzdem geschrieben werden.) Seitdem genieße ich meine Lieblingsserien wohl dosiert und freue mich auf Veröffentlichungen im Wochentakt.

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News