Pädophile, Perverse und andere normale Leute

19.01.2011 - 08:50 Uhr
Happiness
Euro Video
Happiness
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Der Release war überfällig: Endlich erscheint Todd Solondzs Kult-Klassiker Happiness in Deutschland auf DVD. Unser DVD-Kolumnist Thomas Groh empfiehlt dazu die Quasi-Fortsetzung Life During Wartime, die es bislang nur als UK-Import gibt.

Es gibt alles auf DVD? Denkste! Selbst anerkannte, essenzielle Klassiker sind oftmals nicht in Deutschland aufzutreiben. Ein fast schon typischer Dialog etwa am Tresen der Videothek, in der ich arbeite: “Habt ihr Happiness da?” – “Äh, schon – aber nur in der originalsprachlichen Version!” – “Auf Englisch? Och nö, wieso das denn? Warum habt ihr denn nicht die deutsche DVD?” – “Ääääh, weil es die bislang nicht gibt…” – “Hä? Der Film ist doch schon so alt und es gibt doch alles auf DVD!” – “Well, Baby, I got bad news for you…” (Oder so ähnlich ;) ). Jedenfalls: Happiness von Todd Solondz, das große fiese Meisterwerk des amerikanischen Indiekinos der späten 90er, das eigentlich gleichberechtigt neben Fight Club stehen müsste, wenn man die späten 90er filmisch auf den Punkt bringen möchte, dieser Film also ist bislang in Deutschland nicht ohne weiteres aufzutreiben gewesen. Schön, dass EuroVideo nun ein Einsehen hat und ihn diese Woche endlich auf DVD veröffentlicht.

Ein Meisterwerk des bösen Films – und seine Fortsetzung

Happiness sei allen ans Herz gelegt, die Freude an zünftigen Feel-Bad-Movies haben – wer den Film bereits kennt, wird ihn vermutlich eh schon längst vorbestellt haben, wer ihn noch nicht kennt, darf sich auf ein böses Anti-Märchen gefasst machen, das zwar oberflächlich aussieht wie einer der zahllosen Filme im Sundance-Style, dabei aber skrupellos die Befindlichkeiten und Abgründe der Spezies Mensch seziert statt wohltemperierte Wohlfühlkost zu kredenzen. Erzählt wird dabei die Geschichte von drei Schwestern, die je auf ihre Weise das Glück suchen, sich aber nur in einem Wust von Neurosen und Psychosen wiederfinden.

Von der deutschen Öffentlichkeit fast unbemerkt, hat Todd Solondz im letzten Jahr eine Fortsetzung vorgelegt: Life During Wartime entstand exakt 12 Jahre nach Happiness. Die verstrichene Zeit wird auch im Film berücksichtigt, allerdings mit einem Twist: Alle Figuren werden von anderen Darstellern gespielt – Allen etwa, der neurotische Nachbar, der zu obszönen Telefonanrufen neigt, wird nun kurioserweise nicht mehr von Philip Seymour Hoffman verkörpert, sondern von dem sportlich-drahtigen Afroamerikaner Michael Kenneth Williams (bekannt u.a. aus The Wire).

Auch heute steht es um die drei bekannten Schwestern nicht zum Besten: Nachdem ihr Gatte Bill wegen Pädophilie hinter Gitter musste, erzieht Trish ihre drei Kinder alleine. Ihr zwölfjähriger Sohn Timmy lebt im Glauben, der Vater sei gestorben, und befasst sich gerade damit, was es heißt, ein Mann zu sein. Das Hippie-Sensibelchen Joy ist mittlerweile mit Allen verheiratet, der früher neben Helen wohnte, welche mittlerweile eine arrivierte Drehbuchautorin ist. Als Trish einen neuen, möglicherweise zukünftigen Ehemann ins Haus bringt, Timmy erfährt, dass sein pädophiler Vater doch noch am Leben ist, Joy zur Stippvisite auftaucht (und ihren Mann Allen in Depressionen versinken lässt) und Bill auch noch aus dem Gefängnis entlassen wird, nimmt das Schicksal seinen Lauf…

Es brodelt noch immer unter der Oberfläche

Vom Krieg ist in Life During Wartime nichts zu sehen: Alle Figuren leben, mehr oder weniger, in gesicherten, wohlhabenden Verhältnissen – und doch kommt die Rede immer wieder auf “Terroristen”, auf den Nahostkonflikt und natürlich, dass man “ein Land im Krieg” sei. Solondz tupft seine Figuren in pastellfarbene tableauartige, genau kadrierte Bilder, die genau besehen ein echtes Gefängnis sind: Ein Wohlstandsknast, in dem ganz prächtige Neurosen gedeihen. Auch hier strapaziert Solondz wieder die Grenzen des guten Geschmacks: Zwar wirkt Life During Wartime in mancher Hinsicht etwas zahmer als sein Vorgänger – womöglich haben wir uns aber auch einfach nur an solche Spitzen gewöhnt.

Auf allen Figuren liegt der drückende Alb der Vergangenheit, am eindrücklichsten in der Szene, in der Bill seinen ältesten Sohn Billy im College aufsucht, dessen Schulfreund er in Happiness noch missbraucht hatte. Hier wird das Thema des Films am deutlichsten: Kann man vergeben und vergessen, kann man vergeben, ohne zu vergessen, oder kann man vergessen, ohne je zu vergeben? Einfache Antworten, soviel sei gesagt, bietet Life During Wartime nicht. Als Anti-Indie-Film (Solondz hasst Filme wie American Beauty und dergleichen), der die Mittel des Gegners perfekt gegen diese richtet, ist Life During Wartime jedenfalls sehr gut zu gebrauchen – eine Empfehlung an alle Freunde des schwarzen Humors!

Eine schmale DVD

Nach einer ausgedehnten Runde im Festival Circuit ist Life During Wartime im vergangenen Sommer in UK beim Arthouse-Anbieter Artificial Eye auf DVD erschienen. Ein deutscher Kinotermin ist derzeit nicht in Sicht, auch eine deutsche DVD ist bislang nicht angekündigt – lediglich beim hochengagierten Berliner Kinofestival Around the World in 14 Films war der Film kürzlich auch hierzulande zu sehen. Leider ist auch die bei Artificial Eye erschienene DVD sehr simpel in ihrer Aufmachung: Extras (geschweige denn irgendwelche Untertitel) nicht in Sicht. Bleibt zu hoffen, dass man für eine deutsche Lizenzausgabe hier nicht nochmal 12 Jahre warten muss.

(Und Bonusfetischisten können versichert sein: In den kommenden zwei DVD-Kolumnen wird’s zum Ausgleich zwei Prachtausgaben geben!)

Happiness ist bei Amazon für 12,99 Euro erhältlich, Life During Wartime ist bislang nur als Import erhältlich, z.B. beim britischen Amazon für ca. 10 Euro inkl. Versand.

Thomas Groh lebt in Berlin, arbeitet für die Programmvideothek Filmkunst im Roderich und schreibt über Filme, zum Beispiel für die Filmzeitschrift Splatting Image, die taz und das Onlinekulturmagazin Perlentaucher. Wenn er nicht gerade sein Blog aktualisiert, verfasst er wöchentliche DVD-Kolumnen für den moviepilot, in denen er Filme von etwas jenseits des Radars empfiehlt, zuletzt beispielweise den Schwabing-Western Rote Sonne, den Animationsfilm Mein Nachbar Totoro oder die Slapstickkomödie The Party.

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