Ich, Leos Carax & Eine Nacht, die immer jung bleiben wird

25.04.2017 - 09:45 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Juliette Binoche in Die Nacht ist jungArte/Arsenal
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Mein Herz für einen Klassiker schenke ich einem ungewöhnlichen Heist-Thriller voller poetischer Dialoge. Dem traumhaft kunstvollen Meisterwerk Die Nacht ist jung von Leos Carax.

Dem berüchtigten französischen Regie-Exzentriker Leos Carax (Holy Motors) ist es mit Die Nacht ist jung gelungen, sein poetisches Meisterwerk hervorzubringen. In seinem zweiten Film erschafft er für dessen Laufzeit eine künstlich surreale Welt, in der in einer Großstadt nur dessen Figuren zu existieren scheinen. Seine Bildgestaltung ist ebenso extravagant wie eindrucksvoll, was charakteristisch für den Stil des cinéma du look ist. Der Film spielt in einer dystopischen Welt, in der Menschen, die Sex haben ohne zu lieben, von einem Virus befallen werden. Alex (Denis Lavant) ist bereits infiziert, da er seine Freundin Lise (Julie Delpy) nicht liebt. Er schließt sich zwei alten Verbrechern an, um das kostbare Gegenmittel zu stehlen. Dabei lernt er die junge Freundin des einen, Anna (Juliette Binoche), kennen und verliebt sich in sie. Anna geht zwar auf seine Avancen ein, doch liebt sie wiederum ihren deutlich älteren Freund (Michel Piccoli), der ihr Vater sein könnte.

Minimalistische Farbgestaltung in Die Nacht ist jung

Wunderschön minimalistisch gestaltetes cinéma du look

Leos Carax gehört zu neben Jean-Jacques Beineix (Diva) und Luc Besson (Subway) zu den bekanntesten Vertretern des cinéma du look. Diese schufen Filme mit dem gewissen Etwas, das als "le look" bezeichnet wurde. Sie stellten oft Stil über Inhalt, ihre Filme spielten in auffallend künstlichen Handlungsorten und wirkten dadurch surreal und stilisiert. Carax nutzt diese Künstlichkeit in Kombination mit einer minimalistischen Farbgestaltung, um die Atmosphäre seiner Welt, in der die Figuren sich von der Außenwelt abschotten und nur noch ihren romantischen Beziehungen nachgehen, zu vermitteln.

Visuell außergewöhnlich In Die Nacht ist jung ist die Verwendung von ungewöhnlich vielen Nahaufnahmen. In diesen spielt Carax mit einer minimalistischen Farbgestaltung, oftmals mit nur zwei oder drei Farben - bevorzugt mit Schwarz, Weiß und Rot, hin und wieder auch mit Gelb. So trägt Juliette Binoche fast ausschließlich, wie die anderen Darsteller auch, einfarbige Kleidung - eine rein rote Bluse, einen kornblumenblauen Bademantel und ein elegantes Kleid, das schwarz wie die Nacht ist. Daraus sticht Lavants Lederjacke mit schwarzen Rauten auf gelbem Grundton schon regelrecht hervor. Der aufmerksame Zuschauer erkennt, dass von der Farbe des Motorrads und der Autos bis hin zu Haar- und Helmfarben alles darauf abgestimmt ist. Das mag auf den ersten Blick nicht auffallen, doch solche Feinheiten heben die Filme des Perfektionisten Carax auf ein anderes Level.

In einem seiner selten gegebenen Interviews  verrät der Filmemacher, dass er für Pola X die Haare aller Darsteller blond gefärbt und sie in weiße Shirts gesteckt habe, um ein einzelnes Mädchen in einer Einstellung vor diesem Kontrast hervorzuheben. Mit solchen Akzenten entwickelt der Regisseur gemeinsam mit seinem langjährigen Kameramann Jean-Yves Escoffier ein feines Spiel mit Licht und Schatten, zwischen Kontur und Silhouette, künstlicher Farbigkeit und stilisierten Schwarz-Weiß-Sequenzen. Er spielt mit Strukturen, Form und Fläche, wenn er Rahmungen, Linien und Spiegel in sein Bild mit einbaut. Es gelingt ihm dabei, abstrahierte Bilder, die aussehen wie durchkomponierte Gemälde, zu erschaffen. Und wie bei einem Gemälde erzählt auch der Film seine Geschichte hauptsächlich über das Bild. Es kommt der Anordnung von Personen sowie deren Blickrichtung im Bild und den, beispielsweise durch den Gesichtsausdruck, nonverbal vermittelten Emotionen eine besondere Bedeutung im Film zu.

Es sind diese kleinen Dinge, die häufig in einigen aufeinanderfolgenden Bild-Fragmentierungen das große Ganze im Film zusammenhalten. Seine minimalistische, oftmals kontrastierende Bildgestaltung vermittelt dabei den dystopischen Eindruck der düsteren Traumwelt, in der das Drama spielt. Neben der stilisierten Bildgestaltung war ein weiteres Kennzeichen des cinéma du look der Mix von Hoch- und Popkultur. In Die Nacht ist jung wird dieser auffällig am Wechsel im Soundtrack von Sergei Prokofiev zu David Bowie.

Schwarz-weiß Farbabstimmung der Kleidungsstücke und das Spiel mit Lavants Silhouette

Modern Love: Denis Lavant ekstatischer Ausdruckstanz als Höhepunkt des Films

In einer Szene, die narrativ kaum Bedeutung hat und nur durch einen Wechsel im Radioprogramm eingeleitet wird, fängt Alex auf einmal einen rational willkürlichen ekstatischen Ausdruckstanz seiner Gefühle auf der Straße an, der die Emotion der Szene perfekt vermittelt. In einer langen Plansequenz, die thematisch passenderweise durch die Anfangstöne von David Bowies Modern Love eingeleitet wird, folgt die Kamera Denis Lavant seitlich. Er schleppt sich zuerst gequält den Bauch haltend und vor Ärger in die Luft schlagend über die Straße. Aus einem emotionalen Impuls heraus und zu dem schneller werdenden Takt von Bowies Song gelingt es Lavant, diesen qualvollen Gang zu einem euphorischen, wie schlafwandelnd wirkenden, Freudentanz umzukehren. Der Gang Lavants wird so schnell, dass der Hintergrund zu verschwimmen beginnt. Er springt vor Begeisterung in die Luft, dreht Pirouetten und überschlägt sich vor Freude in einem Flickflack. Die Szene bringt die viel gepriesene Körperlichkeit des Schauspielers perfekt zum Ausdruck. Wie es ihm gelingt, nur mit seiner Körpersprache überzeugend den Wechsel in dem akrobatischen Kunststück rüberzubringen, ist beeindruckend und lässt wie die ein oder andere Szene mit den Kartentricks erahnen, dass Denis Lavant früher einmal ein Straßenkünstler war. Noah Baumbach spielte in Frances Ha auf eben diese geniale Szene an , es gibt sogar einen Zusammenschnitt, der beide Seite an Seite im Vergleich  zeigt.

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Eine traumhaft poetische Filmwelt

Die Nacht ist jung eröffnet für seine Spieldauer eine romantische, surreale und äußerst poetische Filmwelt, die nicht vollständig verstanden werden kann und mit Ende des Films auch ihren Schlusspunkt findet. Diese erinnert stark an eine düstere Traumwelt, Leos Carax verglich  das Sehen eines Filmes mit der Wahrnehmung in einem Traum. In seinem Film gibt es viele Parallelen, die einen traumhaften Eindruck vermitteln, die Einstellungen, Kamerabewegungen und intermedialen Anspielungen des Films folgen emotionalen Impulsen. Durch diese erzeugt der Film lebhafte Bilder, die intensive Gefühle beim Zuschauer wecken. Es stehen hier Dialoge, die oftmals abgehackt, bildhaft und voller Wortspielereien sind, inneren Monologen, gerne als asynchrones Voice-over, in dem die Protagonisten ihre Gefühlswelt darlegen, gegenüber.

Wie viele Träume handelt der Film von Dingen, die in der Realität unwahrscheinlich, gar unmöglich sind. Sein Film diskutiert in einer Art luzidem Traum, also in einem Traum, in dem sich der Träumende seines träumenden Zustandes bewusst ist, mittels einer dreifachen Dreiecksbeziehung Liebe auf äußerst poetische Weise. Thomas liebt Lise. Lise liebt Alex, der Anna liebt. Anna liebt Marc, der sie jedoch nicht liebt. Vor dem Hintergrund einer Welt, in der man durch einen Retrovirus an dieser Art der Liebe stirbt, bekommt diese Konstellation eine existenzialistisch geprägte philosophische Tiefe. Es lieben zwar alle vier, doch keiner der Liebenden bekommt eine Erwiderung seiner Liebe durch die Person, die er wirklich liebt. Sie tragen alle einen inneren Konflikt aus, einerseits von einer Person geliebt zu werden, die man selbst nicht liebt, und anderseits eine Person zu lieben, die die eigene Liebe nicht erwidert. Und niemand weiß so recht mit der Situation umzugehen. Ein Wortspiel im Film bringt diese verzweifelnd paradoxe Situation auf den Punkt: "Wenn du endlich weißt, wie man leben soll, ist es zu spät."

Nahaufnahme der bezaubernden Juliette Binoche

Wenn ihr mehr über das Thema erfahren wollt, lege ich euch folgende Informationsquellen ans Herz:
- Senses of Cinema 
- Critic 
- Indie Wire-Interview mit Leos Carax 
- Die Dokumentation Mr. X über den Filmemacher

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