Berlinale 2016 - Eine kurze Reise durchs riesige Programm

11.02.2016 - 09:20 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Berlinale 2016: Midnight SpecialWarner Bros.
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Vom 11. bis zum 21. Februar 2016 lockt die Berlinale wieder Tausende Zuschauer ins Kino. Moviepilot berichtet wieder in einem Festivaltagebuch von den Höhen und Tiefen des Programms.

Es gibt 434 potenzielle Gründe, zur Berlinale 2016 zu gehen. So viele Filme laufen im Programm des Festivals, das heute feierlich eröffnet wird. 434 Gründe - das ist eigentlich noch zu klein gegriffen. 435 sind es mit der logistischen Fitness-Herausforderung von Vorführungen in ganz Berlin. 436 für alle, die einen Filmemacher schon immer mal fragen wollten: "Was hat das zu bedeuten?" 437 für jene, die Ausreden brauchen, um sich eineinhalb Wochen nur von Junkfood zu ernähren. Und 438, falls ihr gerne Festivaltagebücher lest. Auch die 66. Berlinale ist rein quantitativ eine Herausforderung, für Journalisten, die täglich drei, fünf oder sechs Filme sehen und verbal verarbeiten müssen. Noch größer aber scheint mir der Einsatz mancher Zuschauer, die 8-Stunden-Arbeitstage, das perfekte Timing beim Online- oder die unglaubliche Geduld beim physischen Vorverkauf aufbringen. All das nur, um sich in einem dunklen Saal neben lauter Fremden einem Vabanque-Spiel auszuliefern.

A Lullaby to the Sorrowful Mystery

434 - um mal bei den langen und kurzen Filmen zu bleiben - ist schließlich eine ganze Menge. Wer sich nicht an die 18 im Wettbewerb klammern will, steht vor der erdrückenden Auswahl im Forum, Forum Expanded, Retro, Berlinale Special, Serien-Screenings, Jugend-Sektionen, Panorama oder dem so unsinnlich glitzernd beworbenem Kulinarischen Kino. Konnten erfahrene Besucher in früheren Jahren den Wettbewerb von vornherein streichen, hat sich die Berlinale hier zuletzt gemausert. Abgesehen von außer Konkurrenz laufenden Hochkarätern wie Hail, Caesar! von den Coen-Brüdern und Chi-Raq von Spike Lee wartet ein Midnight Special von Jeff Nichols (Take Shelter - Ein Sturm zieht auf) auf Begutachtung, legt Mia Hansen-Løve ihren Nachfolger der Daft Punk-Parallel-Historie Eden vor (Things to Come) und erzählt Denis Côté (Vic + Flo haben einen Bären gesehen) von Boris Without Béatrice. Beiträge aus dem Iran, Tunesien oder Bosnien und Herzegowina zeugen von der filmischen Weltoffenheit eines Festivals, das - ob wegen äußerer Zwänge oder eigenem Selbstverständnis - sich nicht sklavisch den großen Namen verschrieben hat. Mit dem philippinischen Regisseur Lav Diaz findet sich zwar ein aktueller Monolith des Weltkinos unter den 18 Filmen, aber einer, dessen Programmierung automatisch Mut erfordert: Acht Stunden lang ist A Lullaby to the Sorrowful Mystery, acht Stunden, die auch deutschen Historiendramen knapp über Degeto-Niveau oder Doris Dörrie hätten zukommen können (der sublim betitelte Grüße aus Fukushima läuft im Panorama).

Wollte man seinen Plan für die Berlinale 2016 ausschließlich aus asiatischen Filmen zusammenstellen, könnte sich der geneigte Asia-Fan auf unterschiedlichste Filme freuen. Etwa den neuen Dokumentarfilm von Wang Bing (Ta'ang), den von Johnnie To produzierten Thriller Trivisa oder den Südkoreaner The Bacchus Lady, der zweifellos den vielversprechendsten ersten Satz einer Synopse im Programm vorweist: "Youn So-young hat sich einen Tripper eingefangen." Hinzu kommen diverse Filme aus der Volksrepublik China, die es in Wettbewerb (Crosscurrent), 14Plus (What's in the darkness) und andere Sektionen geschafft haben. Oder es zieht einen in die "späten Japaner", Mini-Retros, die seit Jahren gegen 22:30 Uhr im Arsenal im Rahmen des Forums laufen. Diesmal sind es punkige Indie-Beiträge, alle zwischen 1977 und 1990 auf 8 mm gedreht, darunter Filme von Shin'ya Tsukamoto (The Adventure of Denchu Kozo) und Shion Sono (I Am Sion Sono!!).

Indignation

Teilweise bei Sundance vorgeprüftes amerikanischen Independent-Kino füllt die Sektionen ebenfalls. Ira Sachs (Liebe geht seltsame Wege) zeigt Junge Männer in der Generation Kplus, ein Muss im Programmplan wegen des Regisseurs, aber auch der unglaublich sympathischen Länge von 85 Minuten. Robert Greenes semi-dokumentarisches Porträt Actress sollten nicht nur The Wire-Fans gesehen haben. Bei der Berlinale legt er Kate Plays Christine vor, ein Film über die Reporterin Christine Chubbuck, die sich 1974 vor laufenden Fernsehkameras das Leben nahm. Das Spiel mit Fiktion und (dokumentarisch inszenierter) Realität legt schon der Titel nahe. James Schamus, lebende Produzentenlegende und Ex-Berlinale-Jury-Mitglied, adaptiert in Indignation als Regisseur einen Roman von Philip Roth, und Logan Lerman darf den jungen Helden im Amerika der paranoiden McCarthy-Ära spielen. Aus Großbritannien warten beispielsweise A Quiet Passion von Terence Davies (The Deep Blue Sea) über die Dichterin Emily Dickinson (Cynthia Nixon) und War on Everyone von John Michael McDonagh (Am Sonntag bist du tot) auf Zuschauer. Letzterer zeigte in Berlin vor Jahren seinen tragisch angehauchten schwarzen Humor in The Guard - Ein Ire sieht schwarz und schickt diesmal Michael Peña und Alexander Skarsgård in einen Buddy-Movie. Eine waschechte Weltpremiere im Berlinale-Programm, vor allem aber: Michael Peña und Alexander Skarsgård in einem Buddy-Movie (!).

Ob es Filmen gut tut, ihre Platzierung im Programm in jedem Interview mit der aktuellen Flüchtlingsthematik zu bewerben, muss Berlinale-Chef Dieter Kosslick mit seinem cinephilen Gewissen ausmachen. Gianfranco Rosi, der vor Jahren einen Auftragskiller in Zimmer 164 interviewte, zieht es in der Doku Fire at Sea jedenfalls nach Lampedusa und der experimentellere Havarie entfaltet Urlaubsaufnahmen eines Flüchtlingsbootes quasi Frame für Frame. Sie, wie alle anderen Beiträge in der traditionell politisch angehauchten Berlinale, sollten doch zuvorderst die Chance erhalten, sich als Film, statt als Statement zu beweisen.

Aus 434 Chancen will also gefiltert werden, bis die Gewinnquote des pragmatischer gesinnten Cineasten in ein verträgliches Verhältnis rutscht. 446, wenn die Lang- und Kurzfilme der Woche der Kritik  hinzugerechnet werden, die unabhängig von und parallel zum Festival läuft. Da kommt es zumindest meiner zeitlichen Planung entgegen, dass sich die Retrospektive dieses Jahr auf das deutsch-deutsche Filmjahr 1966 beschränkt. Was schön und gut ist, aber angesichts der autorenfilmerischen Auswahl auch etwas dröge. Letztes Jahr stürzte sich die Retro in den populistischen Technicolor-Exzess. Eine Aufarbeitung fürs große Publikum produzierter deutscher Filme bleibt uns aber versagt. "Papas Kino" hat weitaus mehr zu bieten als ein Schlagwort für Einführungstexte des Neuen Deutschen Films. Dennoch: Peter Schamoni (Schonzeit für Füchse), Will Tremper (Playgirl) ... da zuckt der Finger über dem Sternchen im Planer. Um hier optimistisch zu bleiben, sei angemerkt, dass bei 434 Filmen in der Auswahl das Verpassen eines Geheimtipps mit zum Programm gehört. Irgendwas läuft schließlich immer. Also ab ins Kino!

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