Unter Kannibalen: Wie ich aus Versehen zum Timothée Chalamet-Superfan wurde

07.09.2022 - 16:40 UhrVor 1 Jahr aktualisiert
Timothée Chalamet bei der Premiere von Bones and All in Venedig
ASAC/Giorgio Zucchiatti
Timothée Chalamet bei der Premiere von Bones and All in Venedig
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Bei der Premiere von Bones and All in Venedig sorgte Timothée Chalamet einmal mehr für schreiende Fans. Ich war mittendrin.

Venedig. Strahlende Sonne, 26 Grad Außentemperatur. Ein Filmstarts-Kollege und ich stehen an der Anlegestelle, an der die Promis während der Filmfestspiele mit der Fähre vorfahren und warten seit 30 Minuten auf den Cast von Bones and All. Genauer gesagt, Timothée Chalamet. Unser Ziel: Im Rahmen der Festival-Berichterstattung Stories für Instagram aufnehmen. Oder es zumindest versuchen. Denn vor uns stehen dutzende Menschen mit Zeitschriften und Selbstgebasteltem bereit, das sie sich unterschreiben lassen wollen. Wenn hier irgendein Star vorbeiläuft, muss ich auf gut Glück über die Köpfe vor mir filmen.

Als “Timmy!!!!”, das entnehme ich den Schreien um mich herum, schließlich vom Boot steigt und Richtung Festivalpalast läuft, schaltet sich meine Kamera aus. Es sei “zu heiß”, sagt mein Handy. In dem Moment, in dem Dune-Star Timothée Chalamet über den Teppich läuft, wird es plötzlich “zu heiß”?! Wäre das eine Pointe in einem Film, ich fände sie zu platt.

Nach knapp eineinhalb Minuten Chaos und frenetischem Gebrüll der Leute um uns herum, zieht mein Filmstarts-Kollege zufrieden von dannen. Sein Video hochladen. Ich bleibe trotzig zurück und fasse einen Entschluss: Die Wartezeit soll nicht umsonst gewesen sein. Ich werde eine Insta-Story von Timothée hochladen und wenn es das letzte ist, was ich tue!

Wenn ich nur gewusst hätte, worauf ich mich da einlasse ...

Sorry, Bones and All: Das Wichtigste an Filmfestivals sind die Stars

Tayler Russell (links) und Timothée Chalamet in Bones and All

Es ist ein Irrglaube zu denken, dass das Wichtigste an Filmfestivals die Filme sind. Für Medienschaffende und Cineast:innen schon, klar. Wir von Moviepilot berichten dazu ja auch immer fleißig für euch. Aber für die meisten Menschen haben die Berlinale, Cannes oder Venedig einen anderen Appeal: Sie sind eine Chance, den ganz großen Hollywood-Stars mal etwas näher zu kommen. Zumindest wenn man früh genug aufsteht.

Am Premierentag von Bones and All versammelten sich bereits in den frühen Morgenstunden dutzende Fans vor der Absperrung am roten Teppich. Gegen Mittag hat sich ihre Zahl vervielfacht. Überall selbstgemalte Plakate, ausgedruckte Fotos und Sonnenschirme, um vor dem großen Moment am Abend nicht an einem Hitzschlag zu sterben. Laut einem der Plakate wünscht sich eine junge Frau, dass Timothée Chalamet Dinge von ihrem Körper isst. Das erscheint mir schlüssig. Schließlich ist er hier, um eine (sehr gute) Kannibalen-Romanze zu promoten.

Doch ich habe keine Zeit, sie zu fragen, an welche Art von Lebensmitteln sie da denkt oder welches Körperteil sie ihrem Lieblings-Star am ehesten opfern würde. Ich muss zur Tiefgarageneinfahrt um die Ecke. Hier werden Schauspielerinnen und Schauspieler nach ihren Pressekonferenzen nämlich mit Autos abgeholt und zum pompösen (und beeindruckend hässlichen) Excelsior-Hotel gefahren.

Als Dune-Star Timothée auftaucht, verwandeln sich wartende Fans in einen Moshpit – und ich bin mitten drin

Vor der Einfahrt steht bereits eine Handvoll Menschen, Magazincover mit Timothées Gesicht und das Smartphone im Anschlag. Eine Pressekonferenz dauert in Venedig um die 30 Minuten, oft eher weniger. So lange kann ich warten, denke ich, und stütze mich auf das Absperrgitter. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Mädchen in einem "Peach me"-T-Shirt. Eine Anspielung auf Chalamets Durchbruch in Call Me by Your Name, in dem der Star, nun ja, Sex mit einem Pfirsich hat.

Seht hier den Trailer zu Call Me By Your Name:

Call Me By Your Name - Trailer (Deutsch) HD
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Über eine Stunde stehe ich in der prallen Sonne und hinterfrage alle Entscheidungen meines Lebens, die mich an diesen Punkt gebracht haben. Aber jetzt zu gehen würde bedeuten, große Teile meines bisherigen Tages verschwendet und immer noch keine Story für Instagram zu haben. Als Timothée Chalamet schließlich doch auftaucht und zielgerichtet auf die Absperrung zuläuft, an der ich zunehmend geschwächt hänge, glaube ich erst zu halluzinieren. Geistesgegenwärtig schaffe ich es gerade so, ein kurzes Video aufzunehmen. Dann fühlt es sich plötzlich an, als würde ich mich in der Mitte eines Moshpits befinden.

Von überall tauchen Menschen auf, die sich nach vorne drängeln und dabei laut "Timmy!!" schreien. Ich bekomme Plakate an den Hinterkopf und Ellenbogen in den Rücken, Magazine werden über meinen Kopf in Richtung des Hollywood-Stars gestreckt. Plötzlich bekomme ich einen Tunnelblick. Ich fühle mich wie Ursula aus Die kleine Meerjungfrau, als ich mit meinem Kopf zwischen den Autogrammblättern auftauche wie eine monströse Kreatur aus den Tiefen des Meeres. Ich starre in Timothée Chalamets Gesicht und stelle eine Frage, die ich eigentlich nie stelle: "Können wir ein Foto zusammen machen?"

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Als ich auf den Auslöser drücke, zittert mein Finger etwas. Ungläubig starre ich meine Hand an, während Timothée Chalamet lächelnd weiterzieht. Hier stehe ich, verschwitzt, dehydriert und psychisch am Ende, zwischen brüllenden und drängelnden Menschen, die nur eine falsche Entscheidung davon entfernt scheinen, jemanden zu Boden zu trampeln und eine Massenpanik auszulösen – doch unterscheidet mich wirklich so viel von ihnen? Ich muss hier raus. Als ich ein paar Minuten später in sicherer Entfernung das perfekte Video für die Insta-Story heraussuche, überrollt eine Welle aus Scham meinen Körper.

Flirtiv in den Weltuntergang: Timothée Chalamet ist der perfekte Star für unsere Zeit

In Dune habe ich Chalamet zum ersten Mal bewusst als attraktiv wahrgenommen. Eine Beobachtung, die schnell zum Running Gag auf Social Media und in dem Podcast wurde, den ich wöchentlich mit einem Bekannten aufnehme. Ein Hörer schrieb spaßeshalber sogar eine Fanfiction mit mehreren Kapiteln! Ich bin kein Hardcore-Fan, ich besitze keine T-Shirts mit seinem Gesicht oder google regelmäßig, wen er gerade datet. Aber ich finde, dass er ein sehr guter Schauspieler ist, der sehr interessante Filme macht. Und finde es wahnsinnig witzig, dass mir Leute regelmäßig Bilder und Memes von ihm schicken und sagen: "Lisa, da musste ich an dich denken."

Ich würde mich nicht als expliziten Fan bezeichnen, aber ich verstehe, warum Menschen wollen, dass Timothée Chalamet Dinge von ihrem Körper isst. Schließlich ist er der perfekte Star für unsere Zeit. Eine Mischung aus dem mysteriös-amüsierten Charme des jungen Johnny Depp, Tilda Swintons androgyner Garderobe und der nachlässigen Coolness von HIM-Frontmann Ville Vallo, wenngleich mit einer modernisierten, weniger festgefahrenen Vorstellung von Männlichkeit. Dazu kommt ein akutes Verständnis des absoluten Mindfucks, der unsere Existenz ist. Klimawandel, absurde Schönheitsstandards, Druck durch Social Media, mehr psychische Krankheiten als Therapieplätze – wir und die Generationen nach uns sind am Arsch. Und Timothée weiß das.

Harry Styles mag bei der Venedig-Premiere von Don't Worry, Darling insgesamt zwar mehr Fans vor dem roten Teppich versammelt haben. Anschließend wurde er allerdings wegen der inhaltslosesten Aussage, die jemals jemand zur Arbeit an einem Film fabriziert haben kann ("Am besten gefällt mir am Film, dass er sich wie ein Film anfühlt"), zu Tode gememt.

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Timothée Chalamet hingegen ist der kulturell versierte, beinahe intellektuelle der Teenie-Superstars, der genau die Art von tiefschürfender Lebensverneinung in Gespräche einbringt, die sich fürs Jahr 2022 richtig anfühlen. Das Zitat, das nach der Pressekonferenz zu Bones and All um die Welt ging? "Es ist hart, momentan am Leben zu sein. Ich glaube, der Zusammenbruch unserer Gesellschaft liegt in der Luft. Es riecht danach." Dabei warf er den versammelten Presservertrer:innen seinen patentierten "hängende Augenlider, kaum sichtbares Lächeln"-Blick zu. Der feuchte Traum eines jeden Teenagers, der oder die gerade zum ersten Mal Nietzsche gelesen hat.

Ein Foto von Timothée Chalamet und mir landet sogar in der Festival-Zeitung

Nachdem ich das Foto von Timothée Chalamet und mir poste, explodiert mein Telefon geradezu. Hunderte Likes innerhalb weniger Minuten, dutzende aufgeregte Nachrichten, im Subreddit zum Podcast wird ein eigener Thread dazu eröffnet. Auf Twitter schreibt mir ein weiblicher Chalamet-Fan auf Englisch, wo ich den Schauspieler genau gesehen hätte. Sie will eine Auflistung aller Orte. Hinter dem Festivalpalast, sage ich. Nach der Pressekonferenz zum Film. “Hast du ihn nur da getroffen?”, will sie wissen. Ich antworte nicht mehr.

Es fühlt sich an, als wäre ich jetzt Teil eines Clubs, dem ich gar nicht angehören will. Nicht, weil es falsch ist, stundenlang auf seine Stars zu warten oder sexuell anrüchige Plakate zu malen. Fan sein ist super! Aber eigentlich wollte ich wirklich nur eine spannende Behind-the-Scenes-Sache vom Festival teilen. Und jetzt wirke ich plötzlich wie ein Super-Fan, der sich als Journalistin ausgibt, um Selfies abzugreifen.

Als ich am nächsten Tag eine der täglich erscheinenden Festival-Zeitungen aufschlage, kippt die Situation endgültig ins Absurde. Neben Fotos vom roten Teppich, direkt über X-Men-Star Nicholas Hoult, sehe ich Timothée Chalamet vor einer Wand aus aufgeregten Fans – und mittendrin ich. Das, was von meiner Zeit in Venedig bleibt, ist neben ein paar Artikeln und der Erkenntnis, nie wieder Focaccia essen zu können, ein Foto, das mich auf ewig als Superfan stigmatisiert. Zumindest bis zum von Chalamet prophezeiten gesellschaftlichen Zusammenbruch.

Was war euer peinlichster Fan-Moment?

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