Jeden Samstag stellen wir euch einen Kommentar zu einem großen oder kleinen Film vor, zu einer wahnsinnig erfolgreichen oder bisher übersehenen Serie, zu einem Star, den die Welt verehrt - oder der nur einer Person bisher einen Kommentar wert war. Worüber der Kommentar der Woche spricht, ist egal - viel wichtige ist, WAS er zu sagen hat. Wenn also ein paar Worte da draußen eure Saiten ganz besonders zum Klingen bringen, ihr euch in ihnen wiedergefunden habt oder ihr einfach nur begeistert seid - dann sagt uns Bescheid, denn diese Worte sollten auch hier stehen!
Der Kommentar der Woche
Ihr habt Captain Fantastic trotz des großartigen Viggo Mortensen noch nicht gesehen? Dann solltet ihr sachsenkriegers Kommentar ganz besondere Beachtung schenken (und nicht nur, weil er fantastisch ist) - vielleicht entdeckt ihr eine Mauer in eurem Kopf, hinter der eine ganze Welt auf euch wartet ...
Fanatiker gab es immer und überall, gibt es und wird es auch immer
geben. Es sind oft Menschen, die sich in eine bestimmte Idee von so
vielen möglichen verrennen und dann dermaßen daran festbeißen, das eine
Art von geistiger Kiefersperre eintritt. Sie basteln sich aus allen
möglichen Anschauungen der Welt ihre eigene, die dann ihr ganzes Denken
und Handeln in eine bestimmte Richtung lenkt. Mit der Zeit, schwinden
dann nach und nach der Respekt, die Akzeptanz, und schließlich
irgendwann vielleicht sogar die Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Es
tritt vielleicht der Glaube ein, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu
haben. Man setzt sich selbst die Narrenkrone auf den Kopf, man füllt
sich mit überschüssigem, gefährlichem Halbbesserwissen einen Krug, und
geht mit diesem schließlich solange zum Brunnen, bis man am bitteren
Ende anlangt ... oder bis der Krug bricht.
Diese zwei möglichen Wege, sich in die Sackgasse einer bestimmten
Weltanschauung zu begeben, repräsentieren Jack und Ben, der eine der ans
System angepasste und selbstgefällige Großvater der Kinder, der andere
der abseits des Systems lebende und ebenso selbstgefällige
"Philosophenkönig" und Vater. Jack hat sich am Ende seines
vermeintlichen Irrweges, an der unüberwindlichen Mauer seiner eigenen
Überzeugungen, ein hübsches Anwesen gebaut. Würde man ihn fragen, warum
er denn am Dead End eines endenden Weges lebe, würde er vielleicht
behaupten, das sein Weg ende, weil er den einzig wahren Weg gefunden
habe, der ja irgendwann unweigerlich enden müsse. Ben hingegen, dessen
"Holzweg" unter einer Schicht wild wuchernder Natur verborgen, und als
solcher für ihn gar nicht zu erkennen ist, unterrichtet dort an der
Mauer seine Kinder in einer Art
buddhistisch-maoistisch-kommunistisch-atheistischen Darwinismus, der vor
Widersprüchen in sich selbst nur so strotzt.
Aber das entspringt natürlich auch nur meiner Sicht der Dinge, die
ich mir, völlig unbeeinflusst durch irgendeine erlernte Bildung, im
Laufe meines kurzen Lebens, so zurechtgezimmert habe. Ich weiß nicht, ob
ich nicht auch am Ende einer Sackgasse lebe und es mir dort allzu
gemütlich gemacht habe. Aber ich gestehe mir zumindest ein, das es
wahrscheinlich so ist ... oder zumindest so sein könnte. Viele von uns wollen in Filmen immer irgendeine Kritik irgendeiner Art erkennen
müssen, wollen eine solche, bestimmte Kritik haben, um sich vielleicht
hinterher selbst den Kopf streicheln zu können, dass sie doch irgendwie
alles richtig gemacht haben, machen und weiterhin machen werden. Dass sie
richtig denken können, das Richtige denken. Ich sehe CAPTAIN FANTASTIC
als einen Film, der durch die Widersprüchlichkeit seiner Figuren
versucht, sich irgendwie jeglicher Kritik an irgendetwas zu entziehen.
Denn in der Regel, gehen wir einen einmal eingeschlagenen Weg bis zum
Ende, auch wenn wir irgendwann deutlich erkennen müssten, das wir an
irgendeiner Stelle falsch abgebogen sind. Aber vielleicht ist das
Wandeln auf vorhandenen Wegen, die ja darauf hindeuten, das hier bereits
jemand gegangen ist, schon "der falsche Weg". Vielleicht haben weise
Menschen recht, die sagen, man soll dort gehen, wo keine Wege sind, wo
kein anderer bisher gegangen ist.
weg von der Tür, wo sie begann
weit überland, von Ort zu Ort
ich folge ihr, so gut ich kann
ihr lauf ich raschen Fußes nach,
bis sie sich groß und breit verflicht
mit Weg und Wagnis tausendfach
Und wohin dann? Ich weiß es nicht...
Bei Matt Ross, man möge mir verzeihen, muss ich immer an seine
Paraderolle als nerdigen Arsch mit Ohren, in der Miniserie Das Haus der Verdammnis von Stephen King denken. Wie der seine Rolle köstlich
überzogen dargestellt hat, dass es ein Grauen und ein Vergnügen war. So
ähnlich erging es mir auch mit seinem zweiten Langfilm CAPTAIN
FANTASTIC. Denn Ross spielt hier in fast kindlicher Manier mit all den
üblichen Verdächtigen unter den Welt- und Lebensansichten. Er zieht
viele Register der religiösen, politischen oder sozialen Kartei, in die
wir uns im Laufe des Lebens oft selbst sehr gerne einordnen, um dann, aus der Sicherheit einer warmen und gepolsterten Schublade heraus, eine
Meinung, einen Standpunkt, eine Theorie, eine Weltanschauung zu
vertreten, eine vorderste Linie der Verteidigung einzurichten. Was wir
dabei vergessen ist, dass wir alle als Individuen auf die Welt kommen,
und sie auch als Individuen wieder verlassen. Dass wir nur selten im
Leben den Schleier, der uns alle voneinander trennt, wirklich
durchschauen können. Dass wir keinen Menschen, vor allem nicht die uns
zum Schutze befohlenen Kinder, unserem Denken unterwerfen sollten. Dass
wir unsere, fast unvermeidlich im Laufe eines Lebens entstehenden
Grenzen, im Umgang mit anderen, durchlässig machen sollten. Sie nicht
auf andere übertragen sollten. Dass wir jeden Menschen unabhängig und
einzeln betrachten, nicht bewerten, einteilen, zuordnen, verurteilen
sollten. Aber wie immer ist das leichter gesagt als getan, und der
einfache Weg erscheint uns leider viel zu oft auch als der Richtige.
Der Kern dieses, auf jeden Fall "aufwühlenden" Films war für mich
persönlich, abseits der hervorragenden Leistungen aller Schauspieler,
insbesondere der Kids, wieder einmal Viggo Mortensen. Was der sich seit
dem Herrn der Ringe aus dem Ärmel seines Repertoires geschüttelt hat,
fasziniert mich ein ums andere Mal. Ein charismatischer Typ, den ich
gerne auch als Revolvermann gesehen hätte, oder als karthagischen
Heerführer. Wem, wenn nicht ihm, kann ich es abnehmen, dass er, nach
anfänglicher Weigerung, seine Anschauung der Dinge hinterfragen, und
letztendlich sogar ändern kann? Das haben
könnte. Auch das "Happy End", das oberflächlich vorgaukelt, dass CAPTAIN
FANTASTIC recht gehabt haben könne, erscheint mir nicht als
Widerspruch. Die Kinder nehmen das, was ihnen die Eltern als Rüstzeug
mit auf den Weg gegeben haben, und werden nach und nach, eines nach dem
anderen, ihren eigenen Weg gehen ... oder halt auch abseits aller Wege,
in nomadischer Art und Weise, durch diese wunderbare, große, weite, so
atemberaubend schöne, vielfältige Welt streifen, die nicht immer nur
entdeckt, vermessen, beobachtet, eingeteilt und aufgeteilt, sondern
geliebt werden will. Durch ein Leben, das nicht immer nur geplant,
strukturiert, durchorganisiert oder erkauft, sondern schlicht und (gar
nicht immer) so einfach, nur gelebt werden will.
Was bleibt am Ende eines schönen Filmabends? Vielleicht die für mich
nicht allzu neue und auch nur vermeintliche Erkenntnis, dass wir,
solange niemand erscheint, der uns plausibel machen kann, dass er eine
unvermeidliche Autorität besitzt, einen Anspruch darauf hat, uns zu
erzählen, was wir zu tun und zu lassen haben, nur einem einzigen Wesen
gegenüber Rechenschaft schuldig sind ... Uns Selbst...