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Die zwölf Geschworenen - Was heißt schon 'sicher'?

29.08.2015 - 09:00 Uhr
Der Blick geht zum Angeklagten
MGM
Der Blick geht zum Angeklagten
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Ein Film so wichtig wie seine Botschaft: Die zwölf Geschworenen zeigen, dass man niemals zu lange für das Leben eines Menschen kämpfen kann. Selbst wenn man diesen nicht kennt.

Die meisten Filme, die im Rahmen dieser Reihe vorgestellt werden, haben ihren Rang als persönliche Lieblinge wahrscheinlich seit Jahren inne. Sie haben die jeweiligen Autoren durch ihre Jugend begleitet, sie dem Kino ein Stück weit näher gebracht und haben einen festen Platz im DVD-Regal des Schreibers. Bei dem Film, den ich heute vorstelle, liegt die Sachlage anders: Ich habe ihn, obwohl es sich um einen der größten Klassiker handelt, erst vor circa zwei Jahren gesehen, mich aber seitdem so oft in dieses Kammerspiel gestürzt, dass ich inzwischen jedes Wort mitsprechen kann und ihn als meinen Lieblingsfilm an dieser Stelle präsentieren muss.

Die Ausgangslage von Sidney Lumets Kinodebüt „Die zwölf Geschworenen“ ist denkbar einfach: Ein junger Mann wird vor Gericht des Mordes an seinem Vater beschuldigt. Wie üblich in amerikanischen Prozessen dieser Art, muss eine zwölfköpfige Jury über das Urteil entscheiden. Dieses muss einstimmig sein und heißt entweder Freispruch oder Todesstrafe. Die zufällig ausgewählten Jurymitglieder scheinen leichtes Spiel zu haben, zu erdrückend schweben die Beweise über dem Schicksal des aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Angeklagten. Doch Juror Nummer 8 entscheidet an diesem Hochsommertag anders.

„Now, he doesn't say that the boy is not guilty; he just isn't sure."

Interessant ist dabei, dass der von Henry Fonda gespielte Abweichler seine Stimme nicht deshalb gegen einen Schuldspruch erhebt, weil er den anderen Jurymitgliedern gegenüber einen Wissensvorsprung hat. Er wohnte dem selben Prozess bei, ist ebenfalls der Ansicht, die Anklage hat hervorragende Beweise gegen den jungen Beschuldigten vorgebracht. Doch er ist sich seiner Entscheidung nicht sicher, zumindest nicht in dem Ausmaß, das erforderlich wäre, um für den Tod eines Menschen zu stimmen.

Ab dieser frühen Szene des Films setzt ein Kraftakt ein, wie ihn das Kino seitdem nur noch selten gesehen hat. Der Geschworene Nummer 8 rollt zusammen mit den in ihrem Urteil fest überzeugten Juroren den Fall erneut auf. Beweismittel werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft, Aussagen von Zeugen zitiert und Worte fliegen wie Geschosse durch den kleinen, spartanisch eingerichteten Raum, den die Kamera fortan nicht mehr verlässt und der Schauplatz eines beeindruckenden Lehrstücks an Rechtsstaatlichkeit wird.

„I'm gonna kill you!"

Nach und nach überzeugt der achte Geschworene die anderen Mitglieder der Runde. Immer mehr Gewissheiten geraten ins Wanken und das Blatt scheint sich langsam zu wenden. Dabei offenbaren sich die Charaktere der einzelnen Geschworenen und werden zu einem Spiegelbild moderner Gesellschaften und menschlicher Psychen zugleich. Denn als Spiegelbild muss man die Szenerie begreifen: Es ist unmöglich, zwölf Personen in anderthalb Stunden Spielzeit charakterliche Tiefe zu verleihen. Jeder Einzelne bleibt auf wenige Eigenschaften beschränkt, doch fügt man die Charakterzüge als Puzzle zusammen kann man darin den spannenden Konflikt von vielfältigen Gefühlen erkennen, die jeder von uns in sich trägt. Furcht, Zorn, Überlegenheit, Solidarität, Gleichgültigkeit, Mitgefühl, Opportunität; jede dieser Gefühlsregungen findet ihren Repräsentanten in der Jury.

Für mich ist der spannendste Punkt des Films dann erreicht, wenn der vierte Geschworene (E.G. Marshall) sein zementiertes Urteil in Zweifel zieht. Als Börsenmakler denkt rein analytisch. Er ist das einzige Mitglied der Jury, das fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist, ohne dabei eine persönliche Motivation zu haben. Dadurch ist er der herausragende Gegenspieler Henry Fondas. Konsequenterweise ändert er seine Stimme, als eine der belastenden Zeugenaussagen relativiert wird.

„I have a reasonable doubt now.“

Dieser eingestandene Irrtum ist trotz seiner Schlichtheit ein unbeschreiblich herzergreifender Moment. Eine stille Anerkennung für den Aufwand, den der achte Geschworene betrieben hat. Das Zeichen für den Zuschauer, dass die entscheidende Schlacht geschlagen wurde.

Und einer Schlacht sind wir im wahrsten Sinne Zeuge geworden. Wenn der Blick Henry Fondas beim Verlassen des jury rooms noch einmal auf den großen Tisch in der Mitte fällt und die Kamera seine Augenbewegung langsam nachverfolgt sind die Spuren des Konflikts der sich hier abgespielt hat sichtbar. Zigarettenstummel häufen sich zusammengedrückt in Aschenbechern, Papier wurde wild zerknüllt oder diente als Material für Skizzen, hier ein zerrissenes Foto, dort ein offenes Messer. Die Art, wie die Kamera diesen Handlungsschauplatz, an dem Großes geschehen, nun aber endlich wieder Ruhe eingekehrt ist, könnte ebenfalls von einer filmischen Darstellung der Schlachtfelder von Verdun stammen, mit dem Unterschied, dass sich auf diesem Tisch wirklich etwas bewegt hat.

Mich erinnert „Die zwölf Geschworenen“ immer an die Werke Frank Capra, in denen sich Protagonisten für ihre Ideale starkmachen und größte institutionelle Hürden überwinden können, solange sie nur fest genug dafür kämpfen und an sich glauben. Das mag naiv klingen, aber ich mag Capras Kosmos. Sidney Lumet gelingt es die besten Eigenschaften von Capras Werken einzufangen, negativ auffallenden Tendenzen wie den Kitsch und starre Rollenmodelle auszufiltern und somit paradoxerweise den besten Capra-Film zu erschaffen. Einen Film der Mut macht und dazu aufruft, diesen zu haben. Einer der abgedroschensten Sätze der nachträglichen Rezension überhaupt steht diesem Film ausgesprochen gut: Die Botschaft ist heute aktueller denn je.

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Dieser Community-Blog ist im Rahmen der Aktion Lieblingsfilm 2015 entstanden. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Medienpartnern und Sponsoren für diese Preise:


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