Die erstaunliche Erfahrung, A Quiet Place im Kino zu gucken

18.04.2018 - 08:50 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
A Quiet Place ist kein Film für BrendaParamount Pictures/Miramax
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A Quiet Place soll nicht nur ein großartiger Horrorfilm, sondern auch eine einmalige Kinoerfahrung sein. Ich habe daher den Selbstversuch gemacht und wurde so fast zum Mörder.

Seit dem 12.04.2018 läuft A Quiet Place in den deutschen Kinos und entwickelt sich international zu einem weiteren Riesenhit für das Horrorgenre. Doch A Quiet Place ist nicht nur ein spannender Gruselfilm, sondern soll seinem Publikum ein unvergleichliches und atmosphärisches Kinoerlebnis bieten. Doch was ist dran an den zahlreichen Erfahrungsberichten in den sozialen Netzwerken, dass der Horrorfilm das typische nervende Kinopublikum verstummen lässt? Ich habe einen Selbstversuch gestartet und bei meinem Kinobesuch von A Quiet Place die Reaktionen der Zuschauer ganz genau beobachtet.

Die Schutzblase des Nichtwissens

Es ist ein Phänomen, welches Journalisten eigentlich nur selten zu sehen bekommen: nerviges Kinopublikum. Besonders im Horrorgenre und bei Filmen dieses Genres, welche für Jugendliche unter 18 Jahren freigegeben sind, wird der gezeigte Film schnell zur Nebensache. Es wird telefoniert, gechattet, geselfiet oder sich unterhalten: Die Aufmerksamkeitsspanne einiger junger Zuschauer ist teilweise weitaus gruseliger als der Horror auf der Leinwand. Doch als Journalist, der regelmäßig Filme nur in Pressevorführungen schaut, befindet man sich in einer Art Schutzblase vor den realen Erlebnissen, die Zuschauer in Kinovorstellungen erwarten. Denn die Realität in den Kinosälen kann für Horrorfans zum wahren Horror werden.

Mangelnde Kino-Etikette

Es ist eine Wunschvorstellung, die die amerikanische Kinokette Alamo Drafthouse vorlebt. Hier dürfen Zuschauer während des Films nicht reden und Mobiltelefone und Smartphones sind strengstens verboten. Doch die Realität in anderen und vor allem Multiplexkinos könnte von dieser Utopie nicht mehr abweichen. Immer wieder frage ich mich, warum ich mir Horrorfilme überhaupt im Kino anschaue, denn es braucht nur eine Person, um ein ganzes Filmerlebnis zu zerstören.

Psssst

Meine wohl schlimmste Kinoerfahrung war bei einer Vorführung von Paranormal Activity 4. Dass ein Handy klingelt, kommt ab und zu mal im Kino vor und wird durch peinlich berührte Scham schnell unterbunden. Doch bei der von mir beigewohnten Vorstellung meinte eine junge Zuschauerin, sie müsse ihr Kinoerlebnis mit ihrer Freundin am Telefon live während des Filmes mitteilen: "Ich sitze gerade im Kino. Im Kino! Nee, der ist total langweilig. Überhaupt nicht gruselig!".

Dass sich wohl und gerne erschrocken werden darf, ist selbstverständlich bei einem Horrorfilm. Doch in der gleichen Vorstellung meinte eine sich zu profilierende Gruppe von Teenagern bei jedem Jumpscare dem restlichen Kino mitzuteilen, dass sie überhaupt keine Angst hätten und sich gerade nicht erschrocken haben. Dass dieses eine dramatische Kinoerlebnis kein einmaliger Zwischenfall ist, zeigten noch zahlreiche andere Vorstellungen von Horrorfilmen, in denen ich war.

Nerven bis die Nerven blank liegen

Meist drückt man sich genervt in seinen Kinosessel, wenn anstrengende Kinozuschauer ununterbrochen schnattern oder leuchtende Smartphone-Displays das Sichtfeld stören. Selbst eine nervige Simultanübersetzung eines Sitznachbarn an seine nicht der deutschen Sprache mächtige Begleitung konnte durch einfaches Umsetzen überstanden werden. Doch wo bei mir jegliche Toleranz aufhört, ist Piraterie und Fotografie während des Films.

Gib endlich Ruhe

So platzte mir bei einer Vorstellung von Jigsaw im vergangenen Oktober die Hutschnur, als eine Teenagerin der Meinung war, sie müsse den großen Auftritt von Horrorpuppe Billy mit ihrer Handykamera festhalten. Da ich dem Film als großer Fan meine ganze Aufmerksamkeit widmen wollte, wurde ich dementsprechend wütend und stellte mich mit verschränkten Armen in ihr Sichtfeld, bis sie aufhörte, zu filmen.

Das Kino als Quiet Place?

Handy, Gerede, lautes Essen usw.: All das verspricht der Horrorfilm A Quiet Place nun zu unterbinden. Kurz nach seiner Veröffentlichung häuften sich bei Twitter  und Co. die Meldungen, dass A Quiet Place Wunder bewirkt, sowie Warnungen, dass vom Verzehr von Popcorn dringlichst abgeraten wird.

Als Horrorfilmfan, der alle Iterationen der Nervigkeit - wie sie Brenda in Scary Movie (siehe Titelbild) verkörpert - schon live miterlebt hat, konnte ich mir dieses Versprechen einer Utopie nicht entgehen lassen. Da ich den Film bereits zuvor im Zuge einer Pressevorführung gesehen hatte, wusste ich natürlich bereits, was mich erwatet. Doch wie oben beschrieben, ist ein Kinosaal voller Journalisten keine ideale Referenz. Also beschloss ich, A Quiet Place noch ein mal in einer regulären Vorstellung eines Multiplexes (der Ort des Grauens) zu erleben.

Ein Selbstversuch mit verblüffenden Folgen

Bereit bei meiner Ankunft des Kinosaals eröffnete sich mir das Schreckensszenario: Überall Popcorneimer, Bierflaschen, Nachos und Chipstüten! Sobald der Film begann, merkten die betroffenen Personen sehr schnell, dass sie eine fatale Entscheidung getroffen hatten, knusprige Snacks zu kaufen. Mein Sitznachbar schloss leise seine Pringles-Dose und öffnete sie nicht mehr, bis der Film vorüber war. Bevor der Film beginnen sollte, durchflutete den Kinosaal das übliche Geschnatter und Geraschel, welches die laute Werbung auf der Leinwand fast zu übertönen vermag.

Soo viel Popcorn?

Als der Film schließlich beginnt, scheinen einige Zuschauer von der fehlenden lauten Geräuschkulisse überfordert zu sein. Zu festgefahren ist man in den eigenen Strukturen und der Selbstwahrnehmung. Die plötzliche Stille im Film führt zu einer Übersensibilisierung des Hörvermögens, die jedes Getuschel und Knistern einer Chipstüte zu einem hochfrequenten Störsignal werden lässt. Die kommunale Stille und die Angst vor dem eigenen Geräusch scheint diesen Saal noch nicht erfasst zu haben, denn niemand nimmt Rücksicht.

Ist das deutsche Kinopublikum vielleicht zu egozentrisch für diesen Film? In den ersten 20 Minuten ist es schwer, in den Film einzutauchen. Denn unerschrocken und selbstverständlich wird weiterhin das Popcorn in die Mäuler geschaufelt, Bierflaschen ploppen auf und der Film wird im (merkbaren) Flüsterton kommentiert. So schafft es der Film zumindest, seine Zuschauer selbst zu den überempfindlichsten Monstern werden zu lassen, die bei der kleinsten Geräuschwahrnehmung daran denken, wie sie ihren Sitznachbarn möglichst leise ermorden können.

Life imitating art - Wenn der Film zur Realität wird

Achtung, ab jetzt folgen kleine Spoiler zu A Quiet Place: Erst als die aus dem Trailer bekannte Monopoly-Szene kommt, passiert es. Die eingeführten Regeln dieser Welt greifen ineinander und übertragen sich auf das Publikum. Als die Kinder eine Lampe umschmeißen, ist es plötzlich totenstill im Kinosaal. Niemand wagt es in diesem Moment, auch nur daran zu denken, seine Hand in die Popcorntüte zu stecken. Genau für diesen Moment der kommunalen Stille lohnt es sich schon, A Quiet Place im Kino anzusehen.

Ein Atemgeräusch kann schon zu laut sein

Lange hält der Frieden nicht an, und schon bald siegt das Ego über die gemeinschaftliche Erfahrung. Doch mit zunehmender Laufzeit des Films tritt tatsächlich das bereits beschriebene Phänomen auf. Die Beklemmung bei den snackenden Zuschauer wird von Minute zu Minute unerträglicher. So unerträglich, dass jeder Griff in die Popcorntüte mit einem Gefühl der Angst verbunden ist, der ganze Saal könne sich jeden Moment in einen wütenden Lynchmob mit Mistgabeln und Fackeln verwandeln. Als plötzlich das Klingeln eines Mobiltelefons den Raum mit Klang erfüllt, stockt bei allen im Saal der Atem - ein Glück durchflutete das laute Rauschen eines Wasserfalls Sekunden später das Kino.

Ein Film, für den man töten würde

A Quiet Place schafft es jedoch nicht nur, die Lebenswelt der Figuren auf das Publikum zu übertragen und es mit den Charakteren mitfiebern zu lassen. Ebenso schafft der Film Sympathie mit den Aliens und verwandelt seine Zuschauer in geräuschintolerante Monster, die bei dem kleinsten Husten Jagd auf ihre Sitznachbarn machen wollen. Direkt hinter mir wurde minutenlang versucht, eine Tüte M&Ms zu öffnen. Das beständige Knistern wurde von Sekunde zu Sekunde lauter und unerträglicher, sodass ich schon mit dem Gedanken spielte, meinen Hintermann auf gewaltsame Weise seiner Snackvariationen zu entledigen.

A Quiet Place erschafft eine Stimmung im Kino, die dem Film jedoch zum Nachteil werden kann. Zu leicht ist es, sich durch intensive Störquellen aus der Handlung des Films zu entfernen und sich stattdessen den eigenen Mordgedanken hinzugeben. Das Erlebnis, welches A Quiet Place bieten kann, steht und fällt also mit seinem Publikum - wie es eigentlich bei jedem Film der Fall sein kann. Dennoch ist vor allem die vorherrschende Ruhe und die Wahrnehmungsveränderung ein Faszinosum, das für eine besondere Erfahrung sorgt und zugleich einen Lerneffekt in Gang setzt, das eigenen Handeln im Kino zu überdenken.

Emily Blunt ist entsetzt, dass auch sie im Kino Popcorn nascht

Wie lange dieser Lerneffekt anhält, kann nur spekuliert werden. Beim nächsten Besuch eines Blockbusters werde ich vermutlich erneut zum Popcorn und Nachos greifen und freudig meine Cola schlürfen. Zu sehr ist der Großteil der Kinogänger darauf konditioniert und daran gewöhnt, Spannung und Stress im Kino durch Naschen von Snacks zu kompensieren. Für knappe 90 Minuten schafft es hier jedoch ein Horrorfilm, die ewig nervende Geräuschkulisse in Kinosälen zu hinterfragen.

Konnte euch schon ein Erlebnis im Kino an den Rand des Wahnsinns treiben?

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