Cannes 2009 - Der gewaltigste Jahrgang seit Jahrzehnten

25.05.2009 - 09:00 Uhr
Das weisse Band
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Auch wenn am Ende etwas die Luft raus war: Das Jahr 2009 geht als eines der besten Jahre in die Cannes-Statistik ein. Die Masse der Filme überzeugen. Große, starke und anerkannte Regisseure waren vertreten, die nicht enttäuschten, aber Neues suchten die Kritiken vergebens.

Cannes 2009 ist Geschichte. Gestern ging das 62. Internationale Filmfestival mit der Preisverleihung zu Ende. Zwei Österreicher können als Sieger nach Hause fahren: Regisseur Michael Haneke erhielt die Goldene Palme für seinen Film Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte. Selten wurde so schonungslos aufgedeckt, wie sich durch hierarchische Familienstrukturen und protestantischen Eifer der Faschismus in Deutschland entwickeln konnte. Kritiker sind sich einig: Der Film ist einer der brutalsten des Wettbewerbs, auch wenn kein Blut zu sehen ist. Auch Christoph Waltz darf sich freuen. Er ist als Bester Darsteller für Inglourious Basterds ausgezeichnet worden, auch ein Film, in dem Gewalt vorherrscht.

Überhaupt die Gewalt. Sie spielte in diesem Jahr eine außerordentliche Rolle. Für Verena Lueken von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war die Gewalt das vorherrschende Thema, und “zwar in jeder Form. In der Familie. Zwischen den Geschlechtern. Unter Banden. Ausgelöst von übersinnlichen Mächten. Oder von der Polizei. Körperliche Versehrung, sexuelle Gewalt, psychische Grausamkeit, Selbstzerstörung, Krieg. Es herrschte ein solches Gemetzel, dass es zum Beispiel der eigentlich zauberhafte Vorsicht Sehnsucht von Alain Resnais schwer hatte, weil er in der Gesellschaft etwa von Jacques Audiard s Ein Prophet harmlos wirkte und ein wenig langweilig, statt in seiner phantastischen Leichtigkeit befreiend. … Verallgemeinerungen sind immer heikel, aber als das Festival am Donnerstagabend diesen Punkt erreicht hatte, drängte sich der Verdacht auf, dass in all der Gewalt, die wir gesehen hatten, eine untergründige Aggression gegen Frauen ihr Ventil fand. Sie wurden geschlagen, abgestochen, erwürgt, zerstückelt, gedemütigt, verjagt, missbraucht, schamlos ausgestellt.” Auch Anke Westphal von der Berliner Zeitung sah noch nie “bei einer kinematografischen Leistungsschau Frauen auf so schreckliche Weise leiden. Das kann man missbilligen, was indes nichts daran ändert, dass das Kino mehr oder weniger metaphorisch auch Wirklichkeit repräsentiert. Gewalt sei keine Option, sondern Realität, hat Martin Scorsese mal gesagt.”

Trotz aller Gewalt war dieser Jahrgang einer der besten seit langem. Wie Hanns-Georg Rodek in der Welt bilanziert, triumphierte der Autorenfilm über das Mainstream-Kino. “Der Autorenfilm, dieses Herzstück von Cannes, muss sich verändern, und – dem Wettbewerb nach zu urteilen – er tut es. Die große Überraschung von Cannes war sein Paktieren mit dem Genre. Der Genrefilm – Western, Krimi, Science Fiction, Horror – mit seinen in Varianten immergleichen Geschichten und klaren Regeln ist eigentlich der natürliche Feind des Autorenfilms, der als einzige Regel die Vision des Regisseurs kennt. Und doch, wer das Programm durchforstete, entdeckte fast ein Dutzend Genre-Vereinnahmungen durch Autoren.” Der Kritiker sagt sogar voraus: Im Rückblick werden die 62. Festspiele vielleicht ähnlich als Zäsur in die Geschichte eingehen wie das Cannes vor 50 Jahren. Von einer ausgezeichneten, vielfältigen Auswahl spricht auch Christoph Egger in der Neuen Züricher Zeitung.

Dagegen kritisiert Lars-Olav Beier im Spiegel, dass “der Druck, einen Film auf diesem Festival zu präsentieren, so groß ist, dass immer mehr Regisseure hier nur work in progress abliefern. Man kann das natürlich für einer Form der Demokratisierung halten. Schließlich werden die Festivaliers so zum Testpublikum, das über das endgültige Produkt mitbestimmt. Nach der Vorführung von Inglourious Basterds etwa überboten sich die Kritiker geradezu mit Kürzungsvorschlägen, noch nie tummelten sich so viele selbsternannte Cutter auf der Croisette.”

Wahrscheinlich werden wir den einen oder anderen Film auch anders im Kinos sehen. Das Festival ist auch zu einem Gradmesser für das Publikum geworden.

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