Triumph oder Millionengrab? Die Skandal-Serie des Jahres hat eine große Schwäche und es ist der Mega-Star, der sie erschaffen hat

24.05.2023 - 14:10 UhrVor 11 Monaten aktualisiert
The Idol
HBO
The Idol
0
6
Die Skandal-Serie des Jahres heißt The Idol, Lily-Rose Depp spielt die Hauptrolle, aber ihr Co-Star und Serienschöpfer ist leider die Schwachstelle des erotischen Psychotrips.

Ein Pop-Star will neue Sphären der Berühmtheit erklimmen in The Idol und damit meine ich nicht die von Lily-Rose Depp gespielte Hauptfigur. Die Rede ist vielmehr von Abel "The Weeknd" Tesfaye, Creator der großangelegten HBO-Serie und männlicher Hauptdarsteller.

Die Multimillionen-Dollar-Serie wird jedoch seit über einem Jahr von Negativ-Schlagzeilen verfolgt. Beteiligte beschrieben den Inhalt als "kranken Folter-Porno" und warnten vor der Pervertierung der ursprünglichen, feministischen Idee. Beim Filmfestival in Cannes wurden die ersten beiden Episoden von The Idol gezeigt. Ich sah einen erotischen Psychotrip im Musikgeschäft und eine überraschend starke Lily-Rose Depp in der Hauptrolle. Nur das "Genius" der Serie sackt vor der Kamera in sich zusammen.

Die Kurzversion: Warum The Idol schon vor der Premiere so umstritten war

The Idol ist das Baby von Abel Tesfaye, Euphoria-Schöpfer Sam Levinson sowie Ex-"Nightlife Entrepreneur" und Autor Reza Fahim. Erzählt wird die Geschichte eines Pop-Stars, die in die Fänge eines Nachtclub-Besitzers und Führers eines Kults gerät.

Schaut euch den Trailer für The Idol an:

Kite Man: Hell Yeah! Trailer
Abspielen

Mit einem Budget von 75 Millionen Dollar verfilmte die erfahrene Regisseurin Amy Seimetz (The Girlfriend Experience) den Stoff. Dann passierte laut Deadline  und Rolling Stone  Folgendes:

  • Nachdem etwa 80 Prozent der Serie fertig gedreht wurden, verließ Seimetz die Produktion.
  • Angeblich war Tesfaye mit der "weiblichen Perspektive" der Show unzufrieden.
  • The Idol wurde daraufhin vollständig neu gefilmt, mit Sam Levinson auf dem Regiestuhl und einem stärkeren Fokus auf die Liebesgeschichte und Nacktszenen.
  • Quellen aus dem Umfeld der Produktion zeigten sich entgeistert über den Richtungswechsel der Serie. "Es war wie ein sexueller Folter-Porno", zitiert der Rolling Stone eine Quelle bzgl. der neuen Drehbuchentwürfe.

So viel zu den Schlagzeilen. Doch was gibt die Serie wirklich her?

The Idol lebt von einer magnetischen Lily-Rose Depp

Am Anfang der ersten Folge wird der Intimacy Coordinator eines Foto-Shootings auf Wunsch von Superstar Jocelyn (Lily-Rose Depp) in der Toilette eingesperrt. Das darf man als Mission Statement der Serie verstehen. Einerseits, weil die Macher damit hausieren, dass die Leute mit dieser Serie "aufregen" wollen (Zitat Tesfaye in Cannes). Zum anderen, weil Jocelyn in The Idol um Selbstbestimmung ringt – über ihre kreativen Entscheidungen und ihren Körper.

Umringt wird sie bei diesem Foto-Shooting von einer kleinen PR- und Management-Armee (darunter Hank Azaria, Troye Sivan und die maximal zitierfähige Indie-Ikone Jane Adams). Sie diskutieren über die Rettung ihres angeknacksten Images und schauen gleichzeitig auf sie herab wie Geier auf eine Verdurstende. Hier kündigt sich der stärkste und inhaltlich vielversprechendste Teil von The Idol an.

The Idol

Die giftigen Dialog-Gefechte dieser Truppe bringen humoristisches Licht ins dunkle Psychodrama. Gleichzeitig gibt uns Jocelyns Ringen mit ihrem Team die empathischsten Einblicke in ihre Figur. Ein zur Tortur blutiger Füße verkommender Video-Dreh zeigt eine brillant zwischen verbissenem Perfektionismus, Euphorie und Überanspruchung pendelnde Lily-Rose Depp. Wir sehen Depp in diesen ersten beiden Folgen nicht vor einem größeren Publikum, aber ein Blick genügt, um ihr den kriselnden Pop-Star abzunehmen. So überzeugend spielt sie mit der Kamera, aber auch den Background-Tänzern in komplexen Choreografien.

Fraglich ist allerdings, wie viel Interesse zukünftige Episoden an diesem Handlungsstrang zeigen werden, denn da ist ja noch The Weeknd.

Mehr aus Cannes:

The Weeknd fällt als vampirischer Verführer durch

Der Real-Life-Popstar spielt den Clubbesitzer Tedros, der in einem furchtbar unfreiwillig komischen Moment mit dunkler Dracula-Montur auf der Einfahrt von Jocelyns Villa erscheint. Erotische Anziehung auf den ersten Blick bindet die beiden. Sie scheint nach dem Tod ihrer (mutmaßlichen) Showbiz-Mutter nach Richtung zu suchen. Er lockt sie mit Inspiration und musischem Know-How an. Beide teilen ein Faible für BDSM-Spielchen, die in den ersten beide Folgen relativ harmlos und mit viel Andeutung inszeniert werden. Das ist höchstens Fifty Shades of Red, aber wer weiß, wer oder was da in den nächsten Folgen noch kommt.

Jedes Mal, wenn sich die beiden treffen, baut die Inszenierung von Levinson eine dichte, hochgradig sinnliche Atmosphäre auf, als sei das Liebesspiel eine Fortsetzung von Jocelyns Musikvideo-Choreografie im Privaten. Als gefährlicher Verführer erweist sich Tesfaye indes als katastrophale Fehlbesetzung. Seine reale Präsenz vor der Kamera wird sowohl von Levinsons inszenatorischer Sauna als auch von Lily-Rose Depps Strahlkraft eingedampft.

The Idol

Manchmal erinnerte er mich an die männlichen Helden in Hollywoods Noir-Erotik-Boom der 80er und 90er, an Filme wie Basic Instinct oder Jade, in denen sich selbst überschätzende Männer von einer Femme fatale zum Frühstück verspeist werden. Basic Instinct läuft an einer Stelle in The Idol sogar im Fernseher. Allerdings wird Tesfaye wie das Gegenteil dieser Filmhelden vorgestellt: als geheimnisvoller Homme fatale à la Gaslight, der ins Leben einer Frau tritt, sie verführt und in den Abgrund zu reißen sucht. Die Schere zwischen Inszenierung und tatsächlicher Performance wird zumindest in den ersten beiden Folgen nicht geschlossen.

Dabei liegt The Idol die durchaus vielversprechende Geschichte eines Pop-Stars zugrunde, die vom Geschäft dermaßen eingekerkert wird, dass sie einzig in der körperlichen Lust Freiheit finden kann – was sie ins nächste Gefängnis führt. Nach zwei Folgen bleibt erstmal nur das: Ein gar nicht mal skandalöses Erotik-Stück, ein schwacher Hauptdarsteller, eine überzeugende Lily-Rose Depp und das wachsende Fragezeichen darüber, wie Amy Seimetz' Version ausgesehen hätte.

The Idol besteht aus sechs Episoden und erscheint am 5. Juni 2023 bei Sky und WOW in Deutschland.

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News