Raw - Ein neuer Lieblings-Kannibalenfilm & andere Cannes-Perlen

23.05.2016 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Divines, Raw & The Wailing
Easy Tiger/Petit Film/Fox
Divines, Raw & The Wailing
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In Südkorea geht das Böse um, eine Vegetarierin entdeckt die Kannibalin in sich und zwei Mädchen rutschen in eine Gangsterkarriere ab: Abseits des Wettbewerbs hatte das Festival in Cannes ein paar empfehlenswerte Perlen des Weltkinos zu bieten.

Der untrügliche Vorbote des nahenden Cannes-Exodus lässt sich nur als albtraumhafte Vision eines kranken Geistes beschreiben: Im 1. Stock des Festival-Palais wird die Espresso-Bar geschlossen. Während also die verbliebenen Journalisten und Markt-Besucher an diesem letzten Sonntag der 69. Filmfestspiele von Cannes mit Koffein-Mangelerscheinungen in die Wettbewerbs-Wiederholungen stolpern, werden hinter den Kulissen die Koffer gepackt. Gerüchte gehen um über die heiß befürchteten Jury-Entscheidungen. George Miller mag Toni Erdmann nicht. Xavier Dolan und Ken Loach wurden gebeten, die Verleihung der Goldenen Palme zu besuchen, Paul Verhoeven und Maren Ade nicht. Da wartet man fast auf eine offizielle Gewinn(er)warnung. Selbst wenn die Jury um Miller, Kirsten Dunst, Mads Mikkelsen und Donald Sutherland die hochkarätigen Auszeichnungen allesamt ins Gurkenregal stellt, mindert das natürlich nicht die Qualität des Programms. Hier im Festival-Tagebuch habe ich mich meistens über Wettbewerbsfilme ausgelassen, deswegen möchte ich euch Lesern noch ein paar andere Perlen auf die Vormerkliste setzen. Mancher der folgenden Filme könnte es zum Fantasy Film Fest nach Deutschland schaffen oder gar ins Kino. Wir dürfen ja noch träumen.

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Raw

Das dominierende Thema der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes war nicht etwa die Familie als Halt zwischen bröckelnden sozialen Schichten und moralischen Krisen. Nein, der gute alte Kannibalismus zog sich durch so gut wie alle Sektionen, ob Slack Bay und The Neon Demon im Wettbewerb oder die vampirische Abart im leider arg überfrachteten The Transfiguration in Un Certain Regard. Die qualitative Speerspitze des unerwarteten Menschenfresser-Hypes in Cannes fand sich in der Nebenreihe Semaine de la Critique. Mit Raw legte die französische Regisseurin Julia Ducournau ihr Spielfilmdebüt vor, das eine Handvoll Dario Argento, eine Prise Carrie - Des Satans jüngste Tochter und einen aus Versehen abgeschnittenen Finger aus Dreizehn durch den Fleischwolf dreht. Für ein Debüt äußerst souverän in Ton und Stil, verfolgt Raw die junge Justine (Garance Marillier) in den ersten Wochen ihres veterinärmedizinischen Studiums. Die ehrgeizige Vegetarierin muss als Initiationsritus der Studenten Tier-Innereien verspeisen und kommt auf den Geschmack. Als ihr dank eines effektiven Plädoyers gegen Brazilian Waxing ein Menschenfinger in die Hände fällt, knabbert sie drauf los.

Ducourneaus entschlackter Coming-of-Age-Film zieht den Zuschauer hinab in die eskalierende Party-Welt eines Studentenwohnheims, in dem für Justine Beer-Pong vom lockenden Fleisch der Kommilitonen ersetzt wird. Nachts taucht sie ein in blutrote Korridore, in denen nichtsahnende Studenten nur fleischliche Liebe, nicht biologische Selbsterhaltung suchen. Ein Sound-Gewitter der Marke Suspiria und die wilde Soeur fatale Alexia (Ella Rumpf) begleiten sie auf der Entdeckungstour ihrer Triebe, deren Intensität und Unwiderstehlichkeit beeindruckend in Szene gesetzt werden. Zwischen den großen stilistischen Vorbildern arbeitet Julia Ducournau in ihrem Erstling Raw eine unverkennbare Autorenstimme heraus, von der wir sicher noch einiges hören werden.

Divines

In der Quinzaine des Réalisateurs stellte Uda Benyamina ihr mitreißendes Debüt Divines vor. In dem werden zwar keine Menschen gefuttert, dafür mixt die Regisseurin Coming-of-Age- mit Gangsterfilm und siedelt den explosiven Cocktail in den Sozialwohnungen der Pariser Vorstädte an. Dounia (Oulaya Amamra) und ihre beste Freundin Maimouna (Déborah Lukumuena) verbringen ihr Leben zwischen kleinen Diebstählen und Gebeten in der Moschee, während sie davon träumen, irgendwann mit dem Ferrari aus ihrem Viertel zu rasen. Fantasievoll und ungezügelt kommen ihre Sehnsüchte im Film zum Ausdruck, vor allem auch dank der beiden Schauspielerinnen. Amamras Dounia bleibt der Fokus, als diese Rebecca (Jisca Kalvanda) nachzueifern beginnt, die ein Netz von Drogenkurieren im Viertel kontrolliert. Auf den klassischen Stationen des Gangsterfilms sucht Dounia daraufhin nach ihrer Identität und die charismatische Amamra wechselt chamäleonartig zwischen Ghetto-Tomboy und verhängnisvoller Verführerin. Lukumuena gibt den naiveren Gegenpart, in dem sich noch die kindliche Seite zeigt, die Dounia für Geldberge loswerden will. Vergleiche mit Bande de filles sind angebracht, wenn auch das hyperdramatische Finale übers Ziel hinausschießt.

Dog Eat Dog

Bevor der 2005 verstorbene Edward Bunker sich einen Namen als Schriftsteller, Drehbuchautor und Mr. Blue in Reservoir Dogs machte, verdingte er sich als Drogendealer und Bankräuber. Diese Nähe zum Sujet ist auch der Bunker-Adaption Dog Eat Dog von Paul Schrader (The Canyons) anzumerken. Nicolas Cage und Willem Dafoe spielen im Prinzip absolute Loser, die mit reichlich Dusel einen Job über die Bühne bringen, um sich am nächsten Auftrag so richtig zu verheben. Für die Gangster, bei denen jede Tarnung so aussieht, als hätte sie sich ein 12-Jähriger ausgedacht, findet Schraders weitgehend auf Speed erzählter Low Budget-Krimi trotzdem einiges an Zuneigung. Willem Dafoe macht seinem Figurennamen Mad Dog alle Ehre, wohingegen Nicolas Cage eine amüsant-berührende Hommage an Humphrey Bogart hinlegt. Dog Eat Dog droht in jeder drogen- oder waffenbefreiten Szene in ein Koma zu fallen, aber davon gibt es in dem stolzen B-Movie glücklicherweise nur wenige. Paul Schrader hat mit dem Quinzaine-Beitrag einen seiner unterhaltsamsten Filme seit Jahren hingelegt.

Personal Affairs

Im episodischen Personal Affairs aus der Sektion Un Certain Regard erzählt die Regiedebütantin Maha Haj vom Alltag einer palästinensischen Familie. Zunächst sind da die Eltern, die in Nazareth die Monotonie des Rentner-Daseins zur Ausrede genommen haben, nicht über ihre Eheprobleme zu sprechen. Ihre Kinder suchten das Weite, die einen leben in Ramallah, ein Sohn hat es bis nach Schweden verschlagen und wenn man sieht, wie die alten Herrschaften aneinander vorbeileben, versteht man seine Flucht voll und ganz. Die politischen und besonders territorialen Einflüsse auf das Leben der Familie kommen erst am Ende des Films wirklich zum Tragen. Vielmehr liegt es in Hajs Interesse zu beobachten, wie sich die Beziehung der Eltern im Verhalten ihrer Kinder spiegelt. Die haben sich in andere Städte verzogen, aber die Probleme aus dem Elternhaus gleich mitgeschleppt. Zärtlich und sanft werden diese ganz normalen Personal Affairs erzählt, was den Erstling im Cannes der Kannibalen zur willkommenen Verschnaufpause werden ließ.

Goksung

Ein Geheimtipp ist Na Hong-jin ganz sicher nicht mehr und dass der neue Film des Regisseurs von The Chaser und The Yellow Sea in Cannes außer Konkurrenz gezeigt wurde, lässt sich hoffentlich nur durch die zeitnahe koreanische Premiere erklären (was Julieta allerdings auch nicht fernhielt). Der Thriller Goksung (a.k.a. The Wailing a.k.a. The Strangers) hätte diesen Platz sicher eher verdient als The Handmaiden von Park Chan-wook. In einem südkoreanischen Dorf sterben die Menschen wie die Fliegen, bevorzugt durch brutale Gewalttaten und mit dem Wahnsinn ins Gesicht geschrieben. Polizist Jong-gu (Kwak Do-won) wird von der Angelegenheit völlig überfordert. Er ist ein guter Mann, der sich allzu schnell Aberglaube und Ressentiments hingibt, als Spuren ausbleiben. Jong-gu verdächtigt einen zurückgezogen lebenden Japaner (Jun Kunimura aus Kill Bill), womit in Goksung eine Büchse der Pandora geöffnet wird, deren historische Implikationen unerwähnt und doch allgegenwärtig bleiben. Als Jong-gus Tochter langsam einer Art Geisteskrankheit verfällt, sieht sich der Polizist zu drastischeren Maßnahmen genötigt.

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Über 156 Minuten lässt uns Na Hong-jin zittern, ob Jong-gu mit seinem Verdacht richtig liegt oder nicht, ob also das Böse persönlich in die idyllischen Berge eingezogen ist. Mit Hwang Jung-min (New World) als Schamane findet Jong-gu eine von mehreren (religiösen) Präsenzen, die sich in ihren Ratschlägen widersprechen, was das Drama des einfachen Mannes in einem Sturm des Unheils zu einem der spannendsten Filme in Cannes werden ließ. Von Na Hong-jin war nicht weniger zu erwarten gewesen.

Auf welche Filme im Programm von Cannes freut ihr euch?

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