Monströse Mordserie: Leonardo DiCaprio wird in Martin Scorseses 206-Minuten-Epos knallhart an die Wand gespielt und das ist Absicht

20.05.2023 - 21:53 UhrVor 11 Monaten aktualisiert
Leonardo DiCaprio in Killers of the Flower Moon
Paramount/Apple TV+
Leonardo DiCaprio in Killers of the Flower Moon
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Martin Scorseses Epos Killers of the Flower Moon fesselt mit einer monströsen wahren Geschichte und einer Performance, die selbst Robert De Niro und Leonardo DiCaprio in den Schatten stellt.

200 Millionen Dollar teuer, kein Studio traute sich heran, trotz Leonardo DiCaprio und Robert De Niro in den Hauptrollen. Also sprang Apple TV in die Bresche und finanzierte Martin Scorseses langjähriges Wunschprojekt Killers of the Flower Moon. Nun feierte das True-Crime-Epos bei den Filmfestspielen in Cannes Premiere.

Scorsese hat einen seiner wütendsten Filme gedreht. Es ist das atemlose Porträt gnadenloser, amerikanischer Gier, die auf Kosten von zig Menschenleben gesättigt wird. De Niro schenkt ihr als "Genius" dahinter das berechnende Gesicht. DiCaprio dagegen gibt ein Abbild von Dummheit, Abscheulichkeit und, nun ja, Menschlichkeit. Lily Gladstone jedoch stiehlt den Oscar-prämierten Scorsese-Stars die Show.

Das ist die wahre Geschichte hinter Killers of the Flower Moon

Gladstone spielt Mollie Kyle, eine Tochter des Volkes der Osage, die im US-Bundesstaat Oklahoma in einem Reservat leben. In den 1920er Jahren zählen die Stammesmitglieder wegen Ölfunden zu den reichsten Menschen der Welt. Sie kaufen Limousinen und leben in Villen mit weißen Bediensteten, wie Scorsese in einem Prolog zeigt. Die Osage werden jedoch geschröpft: vom Staat, der ein Vormundschaftssystem erfindet für die Verwaltung ihres Geldes, von Vormunden, die ihr Vermögen stehlen, von Geschäften, die höhere Preise verlangen.

Das gäbe genug Stoff für einen Film ab, hätte die Gier bei Diskriminierung und Diebstahl haltgemacht.

Der Trailer für Killers of the Flower Moon:

Killers of the Flower Moon - Trailer (English) HD
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Nacheinander sterben Osage unter ungeklärten Umständen, darunter Mollies nächste Verwandtschaft. DiCaprio spielt ihren Ehemann Ernest, der durch seinen Onkel William Hale (Robert De Niro) von Anfang an – das ist kein Spoiler – in dieses Komplett eingeweiht ist. Im Verlauf der 206 Minuten erzählt Scorsese, der das Drehbuch gemeinsam mit Eric Roth (The Insider) geschrieben hat, wie das monströse Verbrechen umgesetzt wurde.

DiCaprio spielt eine dunkle Variante seines Titanic-Helden Jack Dawson

Scorseses Film wendet sich fundamental von der Vorlage ab, nicht in Sachen Fakten, sondern was die Perspektive betrifft. In David Granns Sachbuch Das Verbrechen: Die Osage-Morde und das FBI (bei Amazon *) wird die Identität der Verschwörer erst spät offengelegt. Scorsese geht entgegengesetzt vor. DiCaprios Ernest kommt als Glücksritter nach Oklahoma, ein Jack Dawson, der, statt für seine große Liebe zu sterben, sie als erste ins Wasser schubst. Wie sein Titanic-Held auch hat er nichts in der Tasche. Nichts außer einer Beziehung zum reichen Viehbesitzer Hale, der ihn dazu verleitet, mit einer Osage-Frau anzubandeln.

DiCaprio mimt Ernest über weite Strecken des Films mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der 1 und 1 nicht zusammenrechnen kann, aber die binomischen Formeln erklären muss. Von der Schwerkraft (oder seinem Intellekt) in die Tiefe gezogene Mundwinkel, die klassische DiCaprio-Stirnfalte so verspannt wie selten zuvor. Es ist eine angemessen grobe Performance für einen Film, der manchmal selbst entgeistert zu sein scheint über die Freimütigkeit, mit der in Osage County zur verbrecherischen Tat geschritten wird.

Lily Gladstone und Martin Scorsese

Dummheit ist allerdings relativ in einem Land, in dem Menschenleben mit zweierlei Maß gemessen werden. Das Drehbuch macht nicht von ungefähr einen Schlenker zum Massaker von Tulsa 1921, in dem ein weißer Lynchmob ein schwarzes Viertel dem Erdboden gleichmachte. De Niros William Hale, menschliches Teflon, gibt nach außen hin den Osage-Freund, und reißt in Hinterzimmern ihr Erbe an sich. Er braucht keine vorsichtigeren Helfershelfer. Das Gesetz schaut sowieso weg.

Lily Gladstone ist Herz und Star von Killers of the Flower Moon

Die Verbrechen und ihre Täter bilden die eine Seite von Killers of the Flower Moon. Es ist die Seite mit akribisch aneinander gereihten Morden und ihren Opfern. Die Seite, die am meisten Scorseses Gangster-Epen und zuletzt The Irishman ähnelt. Auf der anderen Seite steht Lily Gladstones Mollie. Mit ruhigem, klaren Blick durchschaut sie den Glücksritter Ernest und verliebt sich doch in ihn. Sie schenkt ihm einen Hut, ein Haus, ein Herz.

Das Publikum kennt seine Motive vor ihrer ersten Begegnung. Durch Gladstones unerschütterliche Wärme erfahren wir allerdings, was Ernest für ein Mensch sein könnte. Durch Mollies Augen sehen wir über seine Gier, seine Wankelmütigkeit und Prinzipienlosigkeit hinweg. Wir sehen, dass sie an die Existenz dieses Menschen glaubt, selbst als sie an einer "geheimnisvollen Krankheit" im Bett dahinsiecht. Das ist die Seite von Killers of the Flower Moon mit Parallelen zu Zeit der Unschuld oder auch Silence. Scorsese hat ein wütendes True Crime-Epos vorgelegt und einen traurigen Liebesfilm, gespielt von einem grandiosen Ensemble voller Gegensätze.

Killers of the Flower Moon kommt am 19. Oktober in die deutschen Kinos.

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