Leonardo DiCaprios Bärenkampf ist harmlos gegen Willem Dafoes Höllentrip

25.02.2020 - 11:05 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Siberia mit Willem Dafoe
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Siberia mit Willem Dafoe
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Abel Ferrara meldet sich auf der Berlinale mit Siberia zurück. Der irritierende Mindfuck lässt einen vergleichbaren Film wie Leonardo DiCaprios Überlebenskampf in The Revenant zahm wirken.

Fast wie auf Bestellung ist das Wetter zur diesjährigen Berlinale wie gewohnt eingebrochen. Auch wenn die Hauptstadt mittlerweile wieder weitestgehend vom Regen verschont bleibt, warteten die vergangenen beiden Festivaltage mit umso heftigeren Regenstürmen auf.

Die unwirtlichen Zustände, durch die die Berlinale-Schwärme auf dem Festival-Gelände noch gehetzter als ohnehin schon in die trockenen Kinosäle hetzen, wirken trotzdem wie der reinste Sonnenschein im Vergleich zu Willem Dafoes Reise der etwas anderen Art in Siberia.

Obwohl Abel Ferraras letzter Film Tommaso und der Tanz der Geister vor nicht mal zwei Wochen erst in den deutschen Kinos gestartet ist, meldet er sich auf der Berlinale schon mit seinem nächsten Werk zurück. Und was für eines.

Interessante Fakten zu Abel Ferraras Siberia mit Willem Dafoe

  • Abel Ferrara dreht seit den späten 70er-Jahren Filme und hat sich durch seine brutalen, freizügigen sowie kontroversen Werke ein regelrechtes Bad Boy-Image erarbeitet.
  • Willem Dafoe steht nicht zum ersten Mal für Ferrara vor der Kamera. Insgesamt sechs Mal haben der Schauspieler und der Regisseur bisher für Spielfilme zusammengearbeitet.
  • Siberia ist ein wüster Trip, der Zeit und Raum sowie Realität, Einbildung und Traum durcheinanderwirbelt. Und einen überraschenden Bärenkampf einstreut, der The Revenant mit Leonardo DiCaprio im Vergleich harmlos erscheinen lässt.
Willem Dafoe in Siberia

Abel Ferrara als provokativer Bad Boy und selbstreflexiver Künstler

Um sich mit dem neusten Film von Abel Ferrara zu beschäftigen, lohnt sich vor allem der Blick auf den Mann hinter den Werken. Seit den späten 1970er-Jahren dreht der New Yorker Filme, wobei ihm Filme wie Driller Killer, Ms .45 oder Bad Lieutenant den Ruf eines skandalösen Bad Boys einbrachten.

Der Ausstrahlung seiner Werke, in denen er inmitten von brutalen Gewalteinlagen und offen zur Schau gestellter nackter Haut am liebsten die finstersten, abgründigen Wucherungen der menschlichen Seele beleuchtet, wurde Ferrara dagegen auch privat mehr und mehr gerecht.

Es ist kein Geheimnis, dass Ferrara selbst jahrzehntelang schwer von Drogen und Alkohol abhängig war. Aufregend ist an einigen seiner Filme daher auch, wie der Regisseur seine eigene Persönlichkeit in die Werke einfließen lässt und exzessiv zwischen Genie und Wahnsinn pendelt. Dangerous Game war 1992 beispielsweise ein Film, in dem Ferrara Harvey Keitel mit spürbarem Selbsthass als fiktionalisiertes Abbild seiner selbst inszenierte.

Den Regisseur im Film porträtiert der Regisseur hinter der Kamera konsequent als drogensüchtiges Wrack, der das Filmemachen als sadistisch-voyeuristischen Gewaltakt begreift, durch den die Grenze zwischen Schauspiel und Realität zunehmend aufgehoben und Existenzen zerstört werden.

Siberia wirkt wie ein Trip zwischen bizarrer Verstörung und absurder Selbstparodie

Abel Ferraras neuster Film Siberia scheint sich zu Beginn in jene elegische Ruhe einzuordnen, die viele Spätwerke in die Jahre gekommener Regie-Größen ausstrahlen. Willem Dafoe spielt den ruhigen, in sich gekehrten Einsiedler Clint, der es sich in einer Hütte irgendwo in der verschneiten Einöde bequem gemacht hat. Hier empfängt er regelmäßig Besucher, die aus den tiefen Temperaturen zu ihm kommen, um sich bei einem warmen oder möglichst hochprozentigen Getränk wieder aufzuheizen.

Dass dieser Clint jedoch nicht da ist, um sich dem entspannten Seelenfrieden hinzugeben, wird schnell klar. Plötzlich wirken einzelne Szenen wie aus dem Kontext gerissen, fast so, als hätten die Cutter im Schneideraum den roten Faden verloren. Nach fünf Minuten.

Siberia mit Willem Dafoe und Cristina Chiriac

Spätestens durch einen frühen Bärenangriff, den Ferrara hektisch und unübersichtlich wie eine Horrorszene aus einem Slasher in die Handlung einbrechen und wieder verschwinden lässt, sind Siberia direkt keine logischen Grenzen mehr gesetzt. Selbst der berüchtigte Bärenangriff auf Leonardo DiCaprios Hauptfigur in Alejandro González Iñárritus The Revenant - Der Rückkehrer wirkt wie ein gemütlicher Spannungsmoment im Vergleich zu Ferraras verstörendem Chaos.

Von nun an reiht der Regisseur ein surreales Kabinettstück an das nächste, wobei es Dafoes Clint von der verschneiten Einöde im Türkis-Filter über trockene Wüsten bis hin zu idyllischen Landgegenden und beklemmende Höhlen verschlägt. Was ihm dabei widerfährt, lässt sich zwischen bizarren Impressionen und selbstparodistischem Irrsinn kaum beschreiben.

Die Besucher der Berlinale-Pressevorführung von Siberia sind vor lauter nackten Frauen, blutigen Details, skurrilen Willem Dafoe-Doppelrollen, Dunkler Magie und obskuren Körpern jedenfalls irgendwann im gefühlten Sekundentakt aus dem Kinosaal geflüchtet.

Mit Siberia betrachtet sich Abel Ferrara erneut selbst - und verschwindet im Wahn

Es wäre allerdings zu einfach, Siberia lediglich als plumpe Provokation abzutun, die teilweise an die bizarre Arthouse-Symbolik aus den Filmen von Lars von Trier wie Antichrist erinnert (ebenfalls mit sprechenden Tieren im Gepäck). Genauso wie der Däne, der sich von seinen Depressionen und seiner Alkoholsucht als radikaler Künstler antreiben lässt, blickt auch Abel Ferrara in Siberia nach Tommaso weiterhin schonungslos auf sich selbst.

Willem Dafoe in Siberia

Wie im vorherigen Film wird Willem Dafoe erneut zum Alter Ego des Regisseurs. Während Ferrara in Tommaso noch auf die Bruchstellen eines Familienlebens blickte, die eine solche exzessive Vergangenheit für eine mögliche Zukunft bedeutet, kapituliert Siberia vor dem heillosen Wahn.

Siberia, der bereits in Tommaso als nächstes Projekt von Dafoes Ferrara-Ersatz eingebaut wurde, widmet sich nun erneut den intimen Fehltritten und unverarbeiteten Traumata des Menschen hinter dem Filmemacher. Ratlos blickt Clint (oder Ferrara?) auf seine Eltern, seinen Bruder und auf eine ehemalige Geliebte mitsamt im Stich gelassenem Kind, die ihm vorwirft, ihr Leben zerstört zu haben.

Er entgegnet ihr darauf nur, dass sein einziger Fehler darin bestanden hätte, sie zu stark geliebt zu haben. Feige Ausflüchte wie solche Aussagen decken sich mit der wirren Atmosphäre des Films, der wie ein einziger großer (Drogen-)Rückfall wirkt.

Womöglich stellt Ferrara mit Siberia aber nur unter Beweis, dass man ihn auch im hohen Alter noch nicht vorschnell abschreiben sollte. Eine verstörende wie bisweilen urkomische Irritation ist ihm so oder so gelungen.

Kennt ihr Filme von Abel Ferrara und wie steht ihr zu ihm?

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