Joaquin Phoenix auf dem Pfad der Gewalt in You Were Never Really Here

27.05.2017 - 20:00 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
You Were Never Really Here
Amazon Studios
You Were Never Really Here
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In You Were Never Really Here schickt Lynne Ramsay einen traumatisierten Joaquin Phoenix auf den Pfad der Gewalt. Außerdem liefen in Cannes neue Filme von Roman Polanski und François Ozon.

You Were Never Really Here dürfte sich gut als Arthouse-Taken verkaufen lassen, dabei liegt die nächste Verwandtschaft noch ein paar Jahre weiter zurück. Joaquin Phoenix spielt einen Ex-Soldaten, der ein Mädchen aus den Fängen eines Pädophilenrings retten muss. So viel zu den Parallelen. Im Anti-Fernweh-Actioner von Pierre Morel drischt sich Liam Neeson methodisch Bahn, um schlussendlich die Beziehung zu seiner Tochter zu retten. Wenn man so will, ist es ein Familienfilm, ähnlich wie Stirb langsam. Ein Familienfilm mit toten Albanern, statt eines Mrs. Doubtfire-Kostüms. Joaquin Phoenix' Killer hingegen tötet in einer posttraumatischen Vorhölle. Die Bilder der Gewalt aus Kindheit und Krieg hageln Tag für Tag auf ihn nieder und er trägt sie mit seinen Taten weiter. Dieser Mann unter Feuer wählt bei seinen Aufträgen stets den Hammer - nicht sonderlich effektiv, sehr blutig, ein Amalgam aus Handwerk und blinder Wut. In Tony Scotts Actionthriller von 2004 brannte sich das Fegefeuer aus Denzel Washingtons alkoholkrankem Helden hinaus und durch den Film. Lynne Ramsays treibender Thriller im Wettbewerb des Festivals in Cannes verinnerlicht die Qual seines Killers mit einem angenehm zurückhaltend aufspielenden Joaquin Phoenix.

Unter 90 Minuten in der Länge und in Cannes ohne fertigen Abspann gezeigt, wurde You Were Never Really Here als letzter Beitrag in der Konkurrenz präsentiert. Im internationalen Kritikerspiegel von Screen Daily  erreicht der Film erst als zweiter nach Loveless die 3-Punkte Marke. Der Beitrag aus Russland liegt mit 3,2 Punkten von maximal 4 vorne. Auf dem Bodensatz hat sich das beleidigend monotone Künstler-Biopic Auguste Rodin mit 0,8 Punkten in gedankenleerer Pose niedergelassen. Fatih Akins Aus dem Nichts sammelte dürftige 1,7 Punkte. Aus Kritikersicht war das Hauptprogramm des diesjährigen Festivals eine Enttäuschung. Manche der mit Buhrufen oder Indifferenz gestraften Filme, etwa The Killing of a Sacred Deer und Happy End, dürften mit ein paar Monaten Abstand Bewunderer um sich scharen. Das liegt in der Natur des engen Festival-Zeitfensters, in dem man innerhalb kürzester Zeit die eigenen Erwartungen an die betont "großen" Autorenfilmer mit der künstlerischen Realität vereinbaren muss, um das Ergebnis dann mit einer selbstbewussten Absolutheit an die Welt weiterzugeben. Andererseits hielten viele Filme dieses Jahr von vornherein ihre Distanz. Bei Giorgos Lanthimos sowieso, bei Michael Haneke auch dank der schwarzen Komödie im dritten Drittel. Das parodistische Godard-Biopic Redoubtable zwinkerte sich wissend durch seine undurchdachten Referenzen, und The Square mag die für Ruben Östlund typische, analytischen Konstruktionsleistung in seinem Zentrum nie recht hinter sich lassen. Er blickt herab auf die hohe Kunst und macht es sich gleichzeitig auf ihrem Podest gemütlich.

Nach einer wahren Geschichte

Das kann von den beiden Filmdoublen Nach einer wahren Geschichte und L’Amant Double glücklicherweise nicht behauptet werden. Roman Polanski und Olivier Assayas (!) adaptieren in Nach einer wahren Geschichte den gleichnamigen Roman von Delphine de Vigan. Polanski führt Regie, mit Emmanuelle Seigner in der Rolle der Star-Schriftstellerin und Eva Green als ihr Fan, der sich als Freundin, Lektorin und Assistentin ins Leben der Autorin schleicht. Ein gebrochenes Bein darf natürlich nicht fehlen, wobei die Misere diesmal primär im Auge des Beobachters liegt. Nun gut, Eva Green schlägt an einer Stelle genüsslich mit einem Nudelholz auf einen Mixer ein, was wohl nur Smoothie-Skeptiker nachvollziehen können. Seigners Autorin trägt allerdings ihres bei zur ungesunden Beziehung der beiden, entlockt sie ihrer neuen Freundin doch die Lebensgeschichte, um ihre eigene Schreibblockade zu überwinden.

Polanski bewegt sich auf Der Ghostwriter-Terrain und diese Vertrautheit kommt dem neuen Film nicht unbedingt zugute. Auch weil er in Cannes zeitnah zum Wettbewerbsbeitrag L’Amant Double von François Ozon gezeigt wurde, der sich mit zertrümmerten Küchengeräten als Klimax längst nicht zufrieden gibt. Viel wurde bereits über die Innenaufnahme einer Vagina geschrieben, die in den ersten Minuten per Blende im Auge von Marine Vacth zerfließt. Um Aufmerksamkeit wird so natürlich geheischt, aber wenn Ozon den Zuschauer mit Lust in solche Szenen wirft, dann bleibt man gern dabei. Die Zwillingsgeschichte L’Amant Double mit Jérémie Renier in der Dead Ringers-Doppelrolle bedient sich unbekümmert im stilistischen Rumpelkasten von Brian De Palma und kokettiert mit dem Body Horror von David Cronenberg. Wie weit Ozon von diesen Vorbildern entfernt ist, lässt sich immer dann abmessen, wenn er die Grenzüberschreitungen als Traumszenen abmildert. Hier sind ihm Polanski und Assayas in ihrer Adaption voraus. Ihr Film offenbart ob der altbekannten Doppelgänger-Thrills nicht die geringsten Anzeichen erzählerischer Rechtfertigungsversuche. Eine neue Regiearbeit von Olivier Assayas hätte ich trotzdem lieber gesehen.

L'Amant Double

Eine aufs Wesentliche reduzierte Introspektion wie in You Were Never Really Here kam am letzten Wettbewerbstag ganz gelegen. Mit den Schauwerten seines Genres steht der Film allerdings auch in einem Verhältnis ständiger Anspannung, anders als beispielsweise Good Time von den Safdie-Brüdern. Die Gewalt des Rächers-for-hire Joe (Joaquin Phoenix) ist allgegenwärtig. Zwischen Besuchen bei seiner Mutter bildet sie seinen gesamten Lebensinhalt, in Erinnerung, Gegenwart und Zukunft. Gleichzeitig wird sie vielfach visuell ausgespart. Joes erste Befreiungsaktion in einem Pädophilenbordell wird noch über die unbeteiligten Überwachungskameras eingefangen, begleitet vom fröhlichen Gedudel aus dem Radio. In Momenten wie diesem werden in You Were Never Really Here übliche Stilmittel vergleichbarer Genrefilme eingesetzt (die zynische Untermalung von Brutalität mit romantischen Songs z.B.), die gleichzeitig gebrochen zu werden scheinen. "Scheinen", weil die beiden Wirkungen nebeneinander existieren. Mit steigender Laufzeit entfernen dann harte Schnitte den konkreten Akt des Tötens (und die Body Count wächst beträchtlich), als würde der Film langsam sein Kurzzeitgedächtnis verlieren. Oder ist es Joe, der das Töten weniger wahrnimmt, als die Leichen, die seinen Weg pflastern?

Trotz oder wegen der Kürze und Einfachheit der Geschichte saugt einen auch der neue Film der Regisseurin von Morvern Callar und We Need to Talk About Kevin in die Subjektivität seiner Hauptfigur hinein. Joaquin Phoenix' Darstellung des verschwiegenen Joe zieht ihre Wirkung aus seiner Physis, den hängenden Schultern und schwerem Gang, der ihn von Opfer zu Opfer trägt. Ein Bryan Mills stapft durch Paris wie den sibirischen Tiefschnee. Er findet im Kampf die knochenbrecherische Eleganz, weil er ein Actionheld in seinem Element ist. Hier gehört er hin. Joe hat diesen Ort, dieses Sein, noch nicht gefunden.

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Im Kritikerspiegel zum Festival in Cannes bei critic.de  findet ihr weitere Wertungen und Reaktionen.

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