Im Westen nichts Neues-Regisseur über extrem aufwendigen Netflix-Dreh: "Dachte, das schaffen wir nie"

29.10.2022 - 10:00 Uhr
Im Westen nichts Neues
Netflix/Reiner Bajo
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Mit Im Westen nichts Neues hat Edward Berger den bisher spannendsten deutschen Netflix-Film geschaffen. Im Interview spricht er über die Entstehung der aufwendigen Romanverfilmung.

Der 1928 erschienene Roman Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque erzählt von den Schrecken des Ersten Weltkriegs, indem er uns mit deutschen Soldaten an die Westfront schickt. Nach zwei englischsprachigen Verfilmungen (1930 von Lewis Milestone und 1979 von Delbert Mann) entstand in den vergangenen zwei Jahren die erste deutsche Adaption des Stoffs – und zwar unter dem Dach von Netflix.

Regisseur Edward Berger im Interview über die Neuverfilmung von Im Westen nichts Neues

Im Westen nichts Neues anno 2022 ist eine der größten Produktionen, die der Streaming-Dienst hierzulande umgesetzt hat. Die Erwartungen sind groß: Nicht nur wird hier ein wichtiges literarisches Werk neu aufbereitet. Im Westen nichts Neues geht als deutscher Kandidat ins Oscar-Rennen 2023. Von all dem Wirbel lässt sich Regisseur und Drehbuchautor Edward Berger jedoch nichts anmerken.

Aufwendige Projekte ist er genauso gewohnt wie intime Kinofilme. Sein Schaffen erstreckt sich von hiesigen TV-Produktionen über die Berlinale-Beiträgen Jack und All My Loving bis hin zu internationalen Serien wie The Terror, Your Honor und Patrick Melrose. Vor dem Netflix-Start von Im Westen nichts Neues habe ich Edward Berger über Zoom zum Interview getroffen, um über seinen bisher größten Film zu reden.

Hier könnt ihr den Trailer zu Im Westen nichts Neues schauen:

Im Westen nichts Neues - Trailer (Deutsch) HD
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Wie teuer im Westen nichts Neues war, kann Berger selbst gar nicht sagen. "Das Geld reicht nie", erklärt der Filmemacher im Hinblick auf den Umfang der Produktion. "Man kann immer zehn Drehtage mehr gebrauchen. Irgendwie kriegt man es aber dann doch mit den Beschränkungen hin. Und die hat man immer. Bei jedem Film." Im Westen nichts Neues ist davon jedoch kaum etwas anzumerken.

Moviepilot: Wie bist du das erste Mal mit dem Buch in Berührung gekommen?

Edward Berger: Ich habe das Buch das erste Mal gelesen, als ich 15 oder 16 Jahre alt war, und dann nochmal in meinen 20ern. Damals hat es mich sehr beschäftigt. Und obwohl es in den letzten 25 Jahren keine wahrnehmbare Rolle in meinem Leben gespielt hat, war es dennoch immer präsent. Das habe ich gemerkt, als plötzlich die Verfilmung aktuell wurde.

Was war der Moment, der dich damals am meisten beschäftigt hat?

Wirklich in Erinnerung geblieben ist mir die Szene, in der Paul Bäumer [der Protagonist der Geschichte] mit einem französischen Soldaten in einem Krater liegt, als wären sie dort eingeschlossen. Hautnah erlebt er dort den Tod eines anderen Menschen.

Warst du nervös, als dir klar wurde, dass du diesen Moment jetzt umsetzen musst?

Komplett nervös. Als ich meiner Familie zu Hause die Frage gestellt habe, ob ich diesen Film denn machen soll, ist meine Tochter sofort auf mich zugestürmt und hat gesagt: “Unbedingt! Ich habe das Buch gerade in der Schule gelesen und diese Szene im Krater kriege ich nicht mehr aus dem Kopf." Natürlich war ich sehr nervös und wollte alles richtig machen. Bei den Proben war die Szene plötzlich 10 Minuten lang. Der Regieassistent fragte sofort, ob wir sie vereinfachen können, um im Zeitplan zu bleiben. Mir war allerdings klar, dass das keine Option ist, wenn ich der Vorlage und den Erwartungen meiner Tochter gerecht werden wollte.

Der Moment hat mich damals auch am meisten verfolgt. Was glaubst du, warum die Szene vielen so im Gedächtnis bleibt?

In diesem Augenblick wird deutlich, was der Tod genau bedeutet. Wir erleben mit Paul, was der Krieg aus ihm gemacht hat. Gleichzeitig hat er den Schrecken fünf Minuten später schon wieder vergessen und mordet auf dem Schlachtfeld weiter. Im Grunde ist das der Moment, wo seine Unschuld stirbt und damit auch alle seine Ideale. Und all diese komplexen Dinge passieren in einer einfachen Szene.

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Die Krater-Szene ist nicht der einzige intensive Moment im Film. Mir ist vor allem der Schlamm und Dreck in Erinnerung geblieben, hinter dem die Soldaten nach und nach verschwinden. Was waren deine Gedanken bei der Inszenierung?

Ich wollte, dass die Zuschauer einen physischen Film erleben. Dass sie mit Paul Bäumer durch diesen Schlamm und Dreck kriechen. Gleichzeitig habe ich versucht, mir mit der Kamera eine gewisse Distanz zu bewahren. Ich wollte ein Hauch in der Beobachtung sein und nicht zu manipulativ werden. Auf keinen Fall wollte ich in die Ästhetik von amerikanischen oder englischen Kriegsfilmen verfallen. Die Menschen in diesem Film werden nach und nach zu Tieren. Wenn es etwas zu essen gibt, dann hat das etwas Bestialisches.

Es geht hier um viel um archaische Grundbedürfnisse wie Hunger und Durst. Paul Bäumer und seine Kameraden kriechen durch die Erde, sie rennen über endlose Felder. Die Dreharbeiten waren somit auch körperlich sehr fordernd. Nicht zuletzt hatten die Soldaten damals Uniformen aus einem Stoff an, der völlig unpraktisch für Kampfhandlungen war. Der sog sich dermaßen mit Regen voll, dass die Kostüme schnell 40 bis 50 Kilo wogen – und dazu diese ledernen Stiefel. Das hat die Schauspieler vor große Herausforderungen gestellt.

Hat dich dieser intensive Dreh über das Set hinaus verfolgt?

Ja, absolut. Ich habe mindestens ein halbes Jahr gebraucht, um diese Dreharbeiten zu verdauen. Ich war körperlich sehr ausgelaugt.

Du hast schon viele verschiedene Dinge gedreht. Deutsche Filme, amerikanische Serien – auch schaurige Genrestoffe wie The Terror. Im Westen nichts Neues spielt mit seinen Schlachtenszenen aber in einer anderen Liga. Was war für dich die größte Herausforderung bei der Produktion?

Da gab es natürlich sehr viele Dinge, die ich noch nie in dieser Form gemacht hatte: Lange Einstellungen durch Explosionen, Panzer, koordinierte Kampfsequenzen, Spezialeffekte inmitten sehr vieler Darsteller und Komparsen. Ich habe in der Vorbereitung daher viel Zeit mit einem Kameramann [James Friend] verbracht, um uns zu überlegen, wie wir die Zuschauer die Geschichte am intensivsten erleben lassen können, dass sie nach dem Film womöglich selbst erschöpft sind. Es hat sehr lange gedauert, das alles zu formulieren. Schlussendlich spornt mich das aber auch an: Ich mag die Herausforderung, Dinge zu tun, die ich noch nie ausprobiert habe. Denn das bringt auch für mich immer wieder Überraschungen und etwas Neues hervor.

Auf welchen Moment bist du am meisten stolz?

Das sind schon die Schlachtsequenzen. Jede für sich. Sie sind alle sehr unterschiedlich gedreht und jede besitzt eine eigene Ästhetik. Wir waren bestimmt fünf, sechs Wochen auf diesem Schlachtfeld. Als der letzte Drehtag endlich kam, war die Erschöpfung groß, aber die Erleichterung noch größer. Ich dachte oft, dass wir das nie schaffen werden.

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Ist das alles auf dem Schlachtfeld "echt" oder habt ihr verstärkt mit digitalen Effekten gearbeitet?

Sehr, sehr viel ist echt. Der VFX-Supervisor, der für die Computereffekte verantwortlich ist, hat nach dem Dreh selbst gesagt, dass der Film eigentlich ohne Effekte auskäme, da er auch so funktionierte. Das ist natürlich nicht ganz richtig. Man hat immer ein paar wenige Totalen, in denen man die Hintergründe ergänzt. Aber ich habe versucht, alles, was direkt vor der Kamera passiert, direkt am Set einzufangen. Wenn der Dreck durch die Luft schleudert und die Schauspieler übers Schlachtfeld rennen, verändert sich das Licht. Das hat eine eigene Ästhetik und kann nur schwer digital nachgestellt werden.

Der Film ist nicht nur visuell sehr ausgeprägt. Auch die Tonspur und die Musik sind spannend. Es gibt viele ruhige Momente, in denen die Stille fast unerträglich ist – und dann ein markantes, bedrohliches Drei-Ton-Motiv. Wie ist das entstanden?

Für mich war es wichtig, dass der Film von Kontrasten lebt. Laut, leise. Schnell, langsam. Nah, weit. Dreckiges Schlachtfeld, sauberer Zug. Diese Kontraste bieten dem Zuschauer immer wieder neue Herausforderungen. Das soll sich auch in der Tongestaltung spiegeln. Bei der Musik habe ich Volker Bertelmann, unserem Komponisten, gesagt, dass ich gerne einen Ton hätte, den ich so noch nie vorher gehört habe. Es soll neu und anders klingen, aber keine Emotionen aufdrängen. Vielmehr soll es Pauls Bauchgefühl interpretieren. Was spürt er? Die Wut, die Angst, den Hass, die Sehnsucht. Das soll die Musik zum Ausdruck bringen.

Volker hat daraufhin ein Instrument genommen, das er von seiner Großmutter geerbt hat: ein Harmonium. Das ist ein 100 Jahre altes Instrument, aus der damaligen Zeit sozusagen, auch wenn es sich gar nicht so anhört. Man hört im Hintergrund sogar das Klacken der Mechanik, wenn beim Spielen die Luft hineingepumpt wird. Als ich das [mit dem Harmonium gespielte] Drei-Ton-Motiv das erste Mal gehört habe, wusste ich sofort, dass das unsere Musik ist. Darauf haben wir den gesamten Soundtrack aufgebaut.

Die größte Veränderungen gegenüber der Buchvorlage ist der hinzugefügte Handlungsstrang um den von Daniel Brühl gespielten Politiker Matthias Erzberger, der versucht, den Friedensvertrag mit den Alliierten auszuhandeln. Was hat dich dazu bewogen, diesen Teil zu ergänzen?

Der Film erscheint rund 90 Jahre nach dem Buch, 100 Jahre nach dem Ende des Krieges. Unsere Perspektive ist inzwischen eine ganz andere, denn es gab noch einen weiteren Weltkrieg, der alles vorherige überschattet hat. Das hier ist erst der Anfang von einem viel schlimmeren Grauen. Einerseits wollte ich die Essenz von Remarques Roman wahren: Junge Menschen, die von Demagogen in den Krieg geschickt werden, verlieren ihre Unschuld und sterben langsam eines inneren, wenn nicht gar eines tatsächlichen Todes.

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Andererseits wollte ich ein Element hinzueinfügen, das die Zukunft andeutet. Daniel Brühl sagt im Film einen Satz: "Seien sie gerecht zu ihrem Gegner, sonst wird er diesen Frieden hassen." Das ist genau das, was die nationalistischen Deutschen später Erzberger zum Vorwurf gemacht haben. Hätte die Politik nicht das Militär verraten und den Krieg aufgegeben, hätte das Militär gewonnen – das war der Mythos, die Lüge, die sich damals verbreitete und benutzt wurde, um den nächsten Angriffskrieg zu legitimieren.

Eine Passage aus dem Buch, die nicht im Film vorkommt, ist Paul Bäumers Fronturlaub in der Heimat. Gab es einen Grund, warum du diese kurzzeitige Rückkehr, die die Entfremdung der Soldaten betont, gestrichen hast?

Bei der Adaption von einem Buch wie Im Westen nichts Neues muss man ein Schlaglicht werfen und da ist es ein sehr subjektives Empfinden, was man einbaut und was nicht. In diesem Fall hat es sich automatisch durch die Einführung von Daniel Brühls Figur ergeben, denn dadurch verschiebt sich die Handlung des Films auf wenige Tage, Wochen vor dem Ende des Kriegs. Für den Fronturlaub gab es da dramaturgisch keinen Platz mehr.

Hast du dir in Vorbereitung auf die Dreharbeiten andere Kriegsfilme oder sogar die ersten beiden Verfilmungen von Im Westen nichts Neues angeschaut?

Ich habe mir natürlich alle wichtigen Kriegsfilme angeschaut, um zu lernen, wie sich andere der Thematik annähern. So habe ich herausgefunden, was ich machen möchte und was nicht. Auch die 1930er Version von Im Westen nichts Neues habe ich mir angeschaut, dann jedoch sofort wieder weggelegt, weil ich Angst hatte, dass sie mich zu stark beeinflusst oder sogar davon abhält, meinen eigenen Film aus diesem Buch zu machen. Es ist eine große Verantwortung, diesen Stoff zu adaptieren, zumal es die erste deutsche Verfilmung ist. Dann noch ein Filmklassiker im Nacken – da hatte ich natürlich einen enormen Respekt.

Wenn du sagst, du hast dir andere Kriegsfilme angeschaut, um von denen zu lernen: Vor was hattest du am meisten Angst, dass du es bei deinem Film falsch machst?

Ein großer Grund, den Film zu machen, war, dass wir als Deutsche eine ganz andere Perspektive auf den Krieg haben als Engländer und Amerikaner. Sie sind häufig stolz, dass sie ihr Land verteidigt und Europa im Zweiten Weltkrieg vom Faschismus befreit haben. Diese Mentalität beeinflusst die Filme, die aus diesen Ländern kommen. Für mich aber war klar: Wenn ich diese Geschichte aus Deutschland heraus erzähle, kann es keine Heldengeschichte sein, weil es für uns nichts gibt, auf das man stolz sein kann. ist. Meine größte Angst war also, die Figuren zu heroisieren oder die Handlungen zu glorifizieren.

Im Westen nichts Neues läuft seit dem 29. September 2022 in den deutschen Kinos. Am 28. Oktober 2022 erschien die Neuverfilmung bei Netflix.

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