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Eine Abkehr vom Helden - Der Reiz des Ensemble-Films

04.09.2015 - 17:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Everest
Universal Pictures
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Zum Kinostart von Everest, in dem eine Handvoll Bergsteiger sich dazu entschließen, den titelgebenden Mount Everest zu erklimmen, werfen wir einen Blick auf das Phänomen Ensemble-Film, das das Kino seit seiner Geburt begleitet.

1967 stellte der Psychologe Stanley Milgram das "Kleine-Welt-Phänomen"  vor. Kurz gefasst handelt es sich dabei um die Hypothese, dass jeder Mensch mit jedem anderen Menschen auf der Welt über durchschnittlich sechs Ecken verbunden ist. Auch wenn sein entsprechendes Experiment und die daraus gezogene Schlussfolgerung überaus umstritten sind, so zog die Hypothese eine enorme Faszination nach sich sowie zahlreiche weitere Nachforschungen und Experimente, deren Resultate vielleicht etwas anders aussahen als das von Milgram, doch im Kern eine sehr ähnliche Feststellung aufwiesen. Milgrams Hypothese ist bald 50 Jahre alt. Seitdem hat sich gesellschaftlich viel getan, doch der technologische Fortschritt, allen voran natürlich das Internet, haben dieses Verbundenheitsgefühl bloß noch weiter intensiviert und sind mittlerweile ein festes Fundament unserer Gesellschaft geworden.

Mehr: Everest und die Hoffnung auf 3D-Eventfilme

Neben der Ermöglichung von internationaler Kommunikation und des damit einhergehenden globalen Gruppenbewusstseins prägte das Internet uns aber auch in einer anderen Form: Es überflutet den Markt mit Musik, Literatur, Filmen. Das ist für den Konsumenten eine gute Sache, bedeutet aber auch, dass "Stars" wie es sie noch vor 50 Jahren gab, allmählich verschwinden - sie werden ersetzbar. Das soll nicht heißen, dass wir heute keinen Personenkult mehr betreiben, es gibt bloß im Vergleich zur goldenen Hollywood-Studio-Ära kaum Filmstars mehr, deren Name allein für volle Kassen sorgt. Nicht mal mehr die Auszeit einer populären Boygroup kann Teenager in Depressionen schicken .

Dass sich diese Abkehr vom Individuum und die Konzentration auf das große Ganze, auf die Vernetzung von Menschen rund um die Welt, im Kino widerspiegelt, versteht sich von selbst. Die effektivste Methode, diese schier unendliche Komplexität von menschlichen Beziehungen und ihre identischen Daseinsberechtigungen filmisch nachzuempfinden ist der Ensemble-Film, der im Gegensatz zu herkömmlichen Plot-Strukturen nicht auf einen Protagonisten oder eine Protagonistin setzt, sondern entweder auf eine Gruppe von Menschen, die als Einheit behandelt wird, oder auf eine große Bandbreite von Charakteren in verschiedenen Lebenssituationen, denen alle die selbe Relevanz für den Film zugeschrieben wird. Nun ist es keineswegs so, dass es den Ensemble-Film erst seit der Etablierung des Internets gibt. Ganz im Gegenteil taucht dieses Konzept seit den Anfängen des Kinos mit Intoleranz von D.W. Griffith auf und wurde seitdem regelmäßig verwendet, besonders prominent von beispielsweise Sergei M. Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin), Jean Renoir (Die Spielregel), Akira Kurosawa (Die sieben Samurai) oder Sidney Lumet (Die zwölf Geschworenen).

Es ist jedoch auch kein Zufall, dass in den 1990ern der Ensemble-Film besonders stark florierte: Quentin Tarantino schreibt sich mit Reservoir Dogs und Pulp Fiction in den Kult-Kanon ein, Krzysztof Kieslowski inszeniert seine Drei-Farben-Trilogie, Altmeister Robert Altman fügt seiner langen Ensemble-Geschichte Short Cuts hinzu, Paul Thomas Anderson begeistert mit Boogie Nights und Magnolia – um nur die populärsten Beiträge zu nennen. Nach der Jahrtausendwende folgten dann Filme wie Thirteen Conversations About One Thing, L.A. Crash, Gefühle, die man sieht..., Amores Perros, 21 Gramm, Babel, Gosford Park, Code: unbekannt oder Auf der anderen Seite.

Die Qualität dieser Filme variiert sicherlich, doch sie teilen alle eine Faszination für die Dynamik größerer Menschengruppen, ohne einen speziellen Fokus auf eines der Mitglieder zu legen. Sie versammeln individuelle Charaktere, die meisten untereinander fremd, und bringen uns die persönlichen Leben der Figuren nahe und zeigen uns wie sie, häufig unbewusst, Einfluss aufeinander nehmen. Ihre Gefühle, Probleme und Sorgen spiegeln sich in den jeweils anderen Charakteren wieder und auch wenn sie selbst es nicht wahrnehmen, so wird für uns als Zuschauer demonstriert, dass soziale Strukturen wie eine Karte verstanden werden können, in der alle Punkte in ein unüberschaubares Netz eingespannt und miteinander verbunden sind.

In ihren stärksten Momenten können Ensemble-Filme dieser Art eindrucksvolle Demonstrationen der Verbundenheit vermeintlich gespaltener Gesellschaften oder kraftvolle Plädoyers für Multikulturalismus sein, zumindest aber zu mehr Empathie, Verständnis und Kommunikationsbereitschaft einladen. So beklagt beispielsweise Babel von Alejandro González Iñárritu die Fehlkommunikation zwischen verschiedenen Menschengruppen, die zu Fehlvorstellungen in Themen wie Terrorismus, illegaler Grenzüberschreitung, persönliche Leiden oder allgemein rassistischen Vorurteilen führen. Der Film schaut sich die einzelnen Schicksale seiner Figuren an und kommt zu einem vielleicht sehr simplen, aber nicht minder wirkungsvollen Ergebnis: Wenn wir uns verstehen könnten, dann hätten wir auch Lösungen für all unsere Probleme. Filme wie Babel richten ihre Augen auf die zwischenmenschlichen Situationen, in den etwas schief gelaufen ist, in denen Fehler begangen wurden und in denen es an Verständnis mangelte und fordern so zu einem empathischeren, weniger Ich-bezogenen Denken auf - etwas, das vielleicht gerade in unserer aktuellen sozialen und kulturellen Lage besonders wünschenswert ist.

Um derartige soziale Strukturen gerecht darbieten zu können, braucht es aber nicht unbedingt einen Plot, der mehrere Kontinente, etliche Sprachen und sämtliche soziale Schichten repräsentiert, es reicht auch schon eine überschaubare Gruppe von Menschen, die alle ihren ganz eigenen, individuellen Hintergrund mit sich bringen. So sind es beispielsweise in Die zwölf Geschworenen von Sidney Lumet zwölf Männer, die über das Schicksal eines Angeklagten entscheiden müssen und deren Entscheidung stark von ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Hintergründen geprägt ist und ihre Engstirnigkeit sie damit geradezu dazu prädestiniert, die falschen Entscheidungen zu treffen. Oder Robert Altman, der in Gosford Park zwar deutlich mehr als zwölf Charaktere zur Verfügung hat, doch auch er beschränkt sich in seinem Film auf einen Ort und schafft allein durch einen aufmerksamen Blick auf zwischenmenschliche Interaktionen und einer gleichberechtigten Behandlung seiner Figuren ein starkes Portät über soziale Diskrepanzen im England der 1930er Jahre.

Nun haben wir mit Everest den nächsten Eintrag in die lange Geschichte des Ensemble-Films. Auch hier haben wir eine ganze Reihe von Figuren, unter anderem gespielt von Jake Gyllenhaal, Robin Wright, Keira Knightley, Jason Clarke, Josh Brolin und Sam Worthington. Sie kommen aus den verschiedensten Orten, doch finden sie sich zusammen in ihrem gemeinsamen Streben nach der Spitze des Mount Everest. Sie müssen sich gemeinsam ihrer Situation, ihren Wünschen und Ängsten stellen, was den einzelnen Mitglieder natürlich all ihre Kräfte abverlangt. Das nicht nur im buchstäblichen, physischen Sinne, sondern eben auch in ihrer Rolle in der Gruppe, in der gegenseitiges Verständnis unabdinglich ist und deren Dynamik keinen Platz für zu große Egos lässt. Ein richtiger Ensemble-Film eben.

Was haltet ihr von Ensemblefilmen?

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