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Ein Plädoyer für die Fanfiction

18.06.2015 - 17:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Ganz ruhig, Sherlock. Es muss nicht immer gleich so schlimm sein.
BBC/Sophia Rosenberger
Ganz ruhig, Sherlock. Es muss nicht immer gleich so schlimm sein.
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Dieser Text liegt mir schon sehr lange auf dem Herzen. Und jetzt habe ich ihn endlich zu Papier (zu Pixeln?) gebracht. Es geht um eine ganz eigene Sparte der Würdigung von Filmen und anderen Erzählmedien - die Fanfiction.

Was für Gedanken kommen euch spontan, wenn ihr das Wort Fanfiction hört? Und wie verändert sich euer Gesichtsausdruck dabei? Und vor allem: Würdet ihr euch freiwillig eine 25 Kapitel lange Fanfiction statt eines Buches oder Comics durchlesen?
Wenn wir mal die allgemeine Meinung anschauen, kommen einem süß-klebrige Liebesgeschichten zweier männlicher Film-/Serien-/Buch-/Spiele-/Wasauchimmer-Charaktere in den Sinn, ob derer man nur die Nase rümpfen kann und die sich noch weit hinter Groschenromanen anstellen müssen.
Und wisst ihr was? Das habe ich lange Zeit auch gedacht. Und das auch nicht ohne Grund. Aber dann habe ich es gewagt, ein wenig tiefer in den Archiven der großen FF-Seiten zu graben, und habe entdeckt, dass Fanfictions eine Daseinsberechtigung haben sollten und die meisten all die abwertenden Reaktionen überhaupt nicht verdienen.

Ja, so oder so ähnlich habe ich beim Durchforsten von Fanfiction-Archiven auch schon geschaut.

Zu allererst sollte man vielleicht kurz klären, was die Faszination von Fanfictions im Grundgedanken ausmacht.
Das Bedürfnis, Filme oder allgemein festgehaltene Geschichten selbst erleben, teilen, verändern oder weiterführen zu können, hat glaube ich so ziemlich jeder Leser oder Zuschauer schon gehabt. Manchmal sehnt man sich danach, Teil der fantastischen Welt zu sein, in die man gerade mittels Leinwand oder Buch eingetaucht ist. Wer wollte nicht schon einmal Urlaub in Bruchtal machen? Oder Blödsinn mit der Macht anstellen? Oder einmal Martini trinken mit James Bond? Wer wollte nicht ein miserables Filmende ganz neu machen, eine Fortsetzung nach eigenen Maßstäben haben oder einen Charaktertod verhindern? Es ist ein nachvollziehbarer Wunsch, und er ist natürlich nicht umsetzbar.
Wenn man ihn aber zu Papier bringt oder vielleicht auch eintippt, wird er realer. Und da liegt der Knackpunkt. Mit Fanfiction kann man sich das alles von der Seele schreiben, und man kann es mit anderen teilen.

Ein Drink mit Mr. Bond? Aber bitte gerne doch!

Warum also haben Fanfictions einen so schlechten Ruf?
Da gibt es mehrere Gründe.
Der erste Punkt dürfte weithin bekannt und die größte Kritik sein: Slash-Fanfictions.
Also Werke mit eindeutig auf sexueller Action basierender Handlung und dazu meistens noch Boy on Boy, bei Animes unter Yaoi laufend. Ein sehr großer Zweig der Fanfictions beschäftigt sich mit der Verkuppelung, Lovestory oder meinetwegen auch nur mit dem Geschlechtsakt von zwei männlichen Stars, Charakteren, sucht euch etwas aus.
Besondere Zielscheibe für so etwas sind natürlich enge Freunde wie beispielsweise Sherlock Holmes und John Watson. Auch Charles Xavier und Magneto sind immer gern genommen. Wie viele Slashfictions es zu denen gibt, kann glaube ich niemand mehr zählen.
Diese Art der Bearbeitung von Popkultur-Gut wirkt auf die meisten Leute extrem irritierend oder sogar abstoßend, und selbst ich muss ehrlich sagen, dass ich mich von diesen Themen weitestgehend fernhalte, gerade bei geliebten Charakteren.
Allgemein sind Pairings zwischen bekannten Charakteren, die eigentlich nicht zusammengehören, immer ein potentieller Störfaktor.
Was genau der Anreiz besonders für Yaoi-Fanfictions ist, habe ich auch noch nicht zu einhundert Prozent verstanden. Vermutlich aus denselben Gründen, aus denen Männer Girl-on-Girl-Action in Filmen oder Büchern mögen. Interessanterweise sind nämlich so gut wie alle Fanfiction-Autoren, die ich so kenne, Frauen oder Mädchen.

Wenn's doch wirklich nur ums Schachspielen ginge.

Und da wären wir bei einem weitere Problem: Mädchen. Nicht das weibliche Geschlecht, ich werde mich hier sicher nicht selber hochnehmen, sondern das Alter.
Dadurch, dass die Plattformen eigentlich für jeden zugänglich sind, sind auch alle Altersklassen vertreten. Besonders junge Fanfiction-Schreiber sind dabei oft etwas problematischer, da hier oft die Textqualität unter mangelnden sprachlichen Fähigkeiten oder fehlender Erfahrung im Schreiben leidet.
Auch sind solche Texte oft inhaltlich schwer ernst zu nehmen. Das ist keine böse Unterstellung, doch es fällt auf.
Sprachliche oder strukturelle Probleme liegen aber nicht immer nur am Alter. Denn auch ältere Autoren haben oft massive Defizite in Rechtschreibung, Wortwahl oder Grammatik. Wer keinen eigenen Stil oder wenig Übung hat, neigt oft dazu, häufige Wendungen zu übernehmen, weshalb viele Geschichten sehr austauschbar wirken. Auch selbst hinzugedichtete Charaktere kranken oft an Originalität, besonders bei Fantasy-Geschichten bekommen sie alle eine besondere Fähigkeit oder Kräfte, einfach nur, um sie interessant zu machen, und wirken eher wie eine übertriebene Kopie der Charaktere aus der Film-/Buch-/Comicvorlage.
Zudem stolpert man auf Fanfiction-Plattformen über einige Autoren, deren Werke mit einem Wort einfach verstörend sind. Gewalt, Horror und Schlimmeres werden auch gerne mal thematisiert.
Fanfiction-Plattformen besitzen zwar inhaltliche Richtlinien, doch manchmal habe ich das Gefühl, dass sie nicht ganz ausreichen. Trotzdem muss man den Seiten zu Gute halten, dass sie ziemlich gut aufpassen und regulieren.

Jap, auch er hat seinen Platz in den Archiven.

Jetzt habe ich mich lange über die Schwächen von Fanfictions ausgelassen. Und der Artikel heißt „Ein Plädoyer FÜR die Fanfictions“. Dann sollte ich wohl mal mit Pro-Argumenten anfangen.
Man muss zu allererst festhalten, dass all die oben genannten Probleme zwar immer wieder auffallen, wenn man sich die riesige Masse an Geschichten anschaut, aber dass sie nicht die Regel sind.
Und selbst wenn sie es wären: Es gibt immer Ausnahmen von der Regel. Und die sind wirklich lesenswert.

Hier zeigt sich der positive Effekt der Möglichkeit, dass JEDER hier kostenlos Geschichten veröffentlichen kann: So haben auch wirklich talentierte Autoren die Möglichkeit, sich auszuprobieren, und Gleichinteressierte können sich austauschen. Fanfictions sind ein sehr angenehmes Schreibtraining.
Das habe ich selbst schon festgestellt, denn mittlerweile schreibe ich selbst und habe einen Account auf Fanfiction.de.
Sie gehen oft leichter von der Hand als gänzlich selbst erfundene Geschichten, weil einem die bereits vorhandenen Charaktere und Handlungsstränge Hilfestellung geben. Man kann mit kleineren Oneshots sprachlichen Ausdruck trainieren und auch Schwierigkeiten in Rechtschreibung lassen sich mit genug Übung überwinden.
Denn mir persönlich ist aufgefallen, dass man oft über Dinge wie Rechtschreibung hinwegsehen muss, weil darunter wirklich spannende und witzige Geschichten stecken können. Sie sind unterhaltsam und wenn man die Werke bestimmter Autoren über die Zeit verfolgt, erkennt man häufig, dass sich Sprache und Grammatik mit der Zeit deutlich bessern und die vorher bereits vorhandene Qualität noch steigern.

Zu One Piece beispielsweise finden sich extrem viele wirklich gut geschriebene Geschichten!

Zudem finden sich wirklich große Ausnahmetalente, wenn man sich traut, hinzuschauen. Man muss sich vielleicht etwas dazu durchringen, sich etwas durchzuwühlen, aber man wird dann auch belohnt. Das ist nicht viel anders als bei Buchläden.
Zwischen hunderten ‚Bestsellern‘, die alle demselben Thriller-Einheitsbrei entspringen oder auf den Erotik-Zug aufspringen, muss man eben genauer hinschauen, um die Perlen darunter zu entdecken.
Und es gibt bei Fanfictions definitiv Autoren, von denen ich wahnsinnig gerne Bücher lesen würde, die sich aber zum Beispiel nicht trauen würden, an einen Verlag zu schreiben, weil sie es sich nicht zutrauen.

Auch dafür ist FF.de sehr praktisch. Man bekommt Feedback, und wenn man sich in der richtigen Community bewegt, ist das auch ehrlich und fundiert. Durch eine gewisse Anonymität setzt man nicht direkt etwas aufs Spiel, wenn man sich mal an ein paar Fanfictions versucht, um auszutesten, wie andere Leute auf den eigenen Schreibstil und die eigene Erzählweise reagieren. Zudem kann man eigene Prosa und Lyrik genau wie auf Literatur und Film basierenden Werken veröffentlichen.

Ungefähr auch meine Reaktion auf Ghost Rider 2. Hätte man das mal den Fans überlassen!

Ein ganz besonderer Vorteil ist außerdem Folgender: Fans, und seien sie noch so fanatisch, zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich leidenschaftlich und intensiv mit der Materie auseinandersetzen. Sie beschäftigen sich emotional und analytisch mit Charakteren, spekulieren, diskutieren, fantasieren.
Sie blicken über den Budget-begrenzten Tellerrand von Studios und Regisseuren hinaus, schon allein, weil ihnen keine Einschränkungen auferlegt sind, außer durch die Richtlinien der Plattformen. Sie müssen sich keine Gedanken darüber machen, wie man eine Szene umsetzen könnte, denn sie bleibt ohnehin geschriebenes Wort.
Dadurch sind Gedankenspielereien möglich, die manchen Filmemachern oder Autoren verwehrt bleiben.
Aus so viel Leidenschaft entstehen häufig zum Beispiel weiterführende Teile von Filmen, die tatsächlich plausibler und besser inszeniert sind als die zweiten Teile, die dann wirklich kamen. Hier ist es wie bei Pokémon: Vielleicht sollten sich die Entwickler von Filmen oder Spielen oder auch von Büchern etwas mehr mit Ideen von Fans auseinandersetzen. Die Fanideen für neue Pokémon sehen schon lange unendlich viel besser aus als der Großteil derer, die es dann ins Spiel geschafft haben. Und genauso sind zahlreiche Fanfictions oft besser als viele Sequels oder Prequels. Und das trotz berechtigter P18 (denn jede Geschichte bekommt eine Altersbeschränkung).

Also, auf ins Land der Fanfiction!

Ich bitte also hiermit: Verurteilt diese Form der Literatur nicht direkt, lest selbst erstmal nach. Ja, es sind oft Liebesgeschichten, Ja, sie können echt schräg oder sogar pervers sein, Ja, die Community kann total verrückt sein, ABER trotzdem darf man sich davon nicht direkt abschrecken lassen. Manchmal machen sogar diese Verrücktheiten die Fanfiction so cool. Und sie machen einfach einen riesigen Spaß zum Schreiben, das kann ich aus erster Hand bezeugen ;)

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