Berlinale 2017 - Berlin Syndrome und der Horror in Deutschland

15.02.2017 - 09:15 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Berlin Syndrome
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In Sundance konnte Berlin Syndrome bereits schocken. Nun erobert das Psychodrama mit Teresa Palmer und Max Riemelt in den Hauptrollen die Berlinale. Doch warum bietet die deutsche Hauptstadt so eine großartige Kulisse für das Grauen?

Berlin präsentiert sich seit Anbeginn der Filmgeschichte als aufregender Schmelztiegel, der sich als Schauplatz für die unterschiedlichsten Geschichten anbietet. Sei es Fritz Lang, der durch die nächtlichen Straßen jagt, oder Wim Wenders, der sich dem Himmel über den Häuserblöcken annähert. Bereits eine Kamera reicht aus und Berlin verwandelt sich in eine einzige Sinfonie - die Faszination für die Metropole an der Spree kann unmöglich geleugnet werden. Wie überall in dieser Welt verbirgt aber auch Berlin seine düstere Ecken, wie sie vorrangig unter dem Deckmantel eines Horrorfilms besucht werden. Lamberto Bava findet gruselige Dämonen, Andrzej Zulawski erschrickt vor Wahnsinn und Eifersucht, Marvin Kren rennt vor wilden Zombies davon und Dennis Gansel legt sich mit verführerischen Vampiren an, von Akiz' jüngstem Genre-Beitrag ganz zu schweigen. Berlin Syndrome macht sich in dieser Reihe auf der Berlinale 2017 den abgelegenen Hinterhof zu eigen.

Inszeniert von der australischen Regisseurin Cate Shortland, die zuvor mit ihrem aufwühlenden Nachkriegsdrama Lore für Aufsehen gesorgt hat, entdeckt Berlin Syndrome den titelgebenden Handlungsort aus der Perspektive einer Touristin, einer Fremden. Clare (Teresa Palmer) stammt ursprünglich aus Brisbane in Australien und will ihr altes Leben hinter sich lassen. Wie so viele Figuren in Berlin-Filmen ist sie eine Suchende mit turbulenter Vergangenheit. Doch dann ist sie zwischen Brandenburger Tor und dem Fernsehturm am Alexanderplatz vielleicht richtig aufgehoben, denn Berlin selbst ist eine Stadt mit einer turbulenten Geschichte, mit einer turbulenten Vergangenheit. An jeder Ecke entdeckt Clare die Überreste einer alten Welt, die sich zunehmend mit den Strömen einer neuen vermischt. Menschen und Kultur gleichen einem gigantischen Flickenteppich, der nie einen endgültigen Zustand finden wird, sondern ständig die Veränderung sucht.

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Als John Woo vor drei Jahren gegenüber der Welt  seine Pläne für ein potentielles Remake von Der eiskalte Engel kundtat, umschrieb er seine Beobachtungen der Stadt wie folgt: "Paris ist - ebenso wie London und andere europäische Großstädte - mit seinem Status zufrieden. Berlin hingegen ist noch nicht da angelangt, wo es hin möchte. Es ist noch hungrig." Berlin Syndrome gestaltet sich nun als Film, der exakt dieses Gefühl einfängt und den Hunger in der Gefahr hinter der bürgerlichen Fassade entdeckt. Als Clare nämlich durch Kreuzberg streift, lässt sie sich in einer Mischung aus Neugier, Sehnsucht und Unsicherheit in ein Gespräch mit dem zurückhaltenden Andi (Max Riemelt) verwickeln, der über keinerlei Auffälligkeiten verfügt. Andi passt sich wie ein perfekter Durchschnittstyp in das Bild der Stadt und verschwimmt geradezu mit ihr. Zudem verkörpert er Freundlichkeit, Vernunft, Anstand und Respekt. Dass er Lehrer ist, kann kein Zufall sein.

Entgegen all der pulsierenden wie unbeständigen Eindrücke, die Clare in Berlin wahrnimmt, offenbart sich Andi als unerwarteter Ruhepol im alltäglichen Treiben der Stadt, die niemals schläft. Das Problem ist bloß: Kaum wagt Clare einen Schritt in den Hinterhof, gibt es kein Entkommen mehr. Andi entpuppt sich als Psychopath, der Clare fortan in seiner Wohnung gefangen hält. Es folgen frustrierende eineinhalb Stunden, die stets von einer großen Ungewissheit verfolgt werden, um was es dem Antagonisten der Geschichte eigentlich geht. Andi fesselt Clare mit der gleichen Motivation ans Bett, mit der er sie fragt, was sie denn gerne zum Abendessen hätte. In einem dermaßen unklaren Verhältnis fällt es schwer, die Richtung des Films einzuschätzen, zumal er ab einem bestimmten Zeitpunkt die Stadt komplett ausklammert und sich ausschließlich auf das Klaustrophobische konzentriert. Abgeschottet von der Außenwelt hört Clare niemand schreien, völlig egal, wie sehr sie sich bemüht.

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Berlin Syndrome profitiert unglaublich von dem starken Kontrast, den der Film in seinem Übergang vom ersten in den zweiten Akt aufbaut. Am Anfang ist da die Vielfalt, die beim Entdecken auf staunende Gesichter stößt. Später bleiben nur noch die spärlich eingerichteten Räume eines heruntergekommenen Hinterhauses, das sich eigentlich im Herz der Stadt und trotzdem gänzlich abgelegen befindet. Nach und nach werden Strom und Wasser abgestellt, ehe die winterliche Dunkelheit einsetzt und das Tageslicht verdrängt. Fotografierte Clare zu Beginn noch die ersten Sonnenstrahlen über den Dächern am Kottbusser Tor, bleibt ihr zum Schluss lediglich der Ausblick in die Tristesse alternder Bauten, die vergessen vor sich hinrotten, bis sie entweder abgerissen werden oder von alleine dem Zerfall gehorchen. Auf keinen Fall würde Clare erneut ihrer Bewunderung für die brachliegende DDR-Landschaft und ihre Architektur Ausdruck gewähren, jetzt, wo sie keinen Ausweg mehr aus dem urbanen Sumpf sieht.

Wie viele Filmemacher zuvor sieht Cate Shortland in Berlin nicht nur eine Kulisse für eine Geschichte, sondern einen eigenen Charakter, der sich mehr oder weniger im Hintergrund der Erzählung bewegt. Hätte Berlin Syndrome auf den ersten Blick in jeder beliebigen Großstadt spielen können, bietet der Film auf den zweiten einen großen Reichtum an Lesarten, völlig unabhängig seines Genres. An einem solch definierenden Begriff zeigt Cate Shortland sowieso kein Interesse. Vielmehr versteht sie die Umgebung als unterstützende Kraft für ihre Figuren und deren Handlungen, wenngleich nicht alle Bezüge ausbuchstabiert werden. Ein Generationenkonflikt deutet sich etwa nur beiläufig an, ebenso das Bewusstsein über die Einheit in einer dermaßen vielfältigen Stadt, die einst durch eine Mauer geteilt war. Aber vielleicht machen gerade diese beiläufig eingestreuten Denkanstöße Berlin Syndrome zu einem so unheimlichen wie nachdenklichen Film.

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