Absetz-Welle bei Netflix: Warum auch die beste Serie keine Chance hat

08.05.2019 - 10:30 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Daredevil, eine der wichtigsten Netflix-Serien
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Daredevil, eine der wichtigsten Netflix-Serien
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Netflix setzt am laufenden Band Serien ab. Aus der Masse können wir ein bedenkliches Muster herauslesen. Lest hier, wie ein Netflix-Gesetz zustande kam, das Serien verkürzt.

Timothy Olyphant sah das Ende seiner Serie kommen. "Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, haben sie schon wieder eine Serie abgesetzt." Mit "sie" meint Olyphant Netflix, wo Santa Clarita Diet läuft. Seiner - absolut berechtigten - Paranoia machte Olyphant vor zwei Wochen in einem Gespräch mit TV Line  Luft, worin er über Santa Clarita Diet schon in der Vergangenheitsform redet ("Ich liebte den Job").

11 Tage später stellt Netflix die Serie tatsächlich ein. Sie wird Teil einer Absetzwelle bei Netflix, die viele kleine Serien wie Everything Sucks! und One Day at a Time mit sich riss - und sogar ein ganzes Franchise fortspülte: Die Marvel-Netflix-Serien, denen auch die Disney-Ansprüche zum Verhängnis wurden.

Warum Netflix Serie absetzt: die wichtigsten Erkenntnisse

  • Die Serienabsetzungen bei Netflix folgen einem klaren Muster.
  • Serien werden schon früh ausgesiebt, langlebige Netflix-Serien gibt es kaum.
  • Netflix stellt so das Konzept Serie infrage.

Absetzwelle: Welche Serie trifft es als nächstes?

Fans und Serienschaffende sind verstimmt. Die Showrunner von Santa Clarita Diet reagierten giftig  auf die Absetzung, Santa Clarita Diet-Fans fühlen sich hintergangen . Die Serie galt im Netflix-Portfolio als Fels, hatte eine solide, wenn auch nicht unbedingt laute Fangemeinde. Sie war eine der günstigeren Netflix-Produktionen. Und trotzdem ist ihr Fall bei Netflix typisch.

Netflix tut sich zunehmend schwer damit, Absetzungen glaubhaft zu erklären. Das hat 2 Gründe:

  • 1. Absetzungen bei Netflix häufen sich. Serien enden manchmal ohne ersichtlichen Grund, was uns zu Grund 2 führt:
  • 2. Netflix veröffentlicht Zuschauerzahlen zu Serien nur, wenn sie hoch sind - und selbst dann nur vereinzelt. Misserfolge werden also erst mit der Absetzung sichtbar, die dann Fans wiederum wie ein Schock trifft.

Daraus ensteht eine ungemütliche Ungewissheit, die jeder kennt, der mit defekter Tankanzeige in eine Einöde fährt. Zahlen geben Halt. Netflix pochte lange darauf, dass hohe oder niedrige Zuschauerzahlen nicht über die Zukunft einer Serie entscheiden und Daten genau deshalb nicht veröffentlicht werden.

Tatsächlich sind für Netflix Zahlen die wichtigste Ressource bei der Entscheidung für oder gegen eine Serie.

Santa Clarita Diet

Warum manche Netflix-Serien abgesetzt werden - und andere nicht

Hier ein paar abgesetzte Netflix-Serien der letzten Jahre mit der Anzahl ihrer Staffeln.

  • One Day at a Time, 3 Staffeln
  • Santa Clarita Diet, 3 Staffeln
  • Bloodline, 3 Staffeln
  • Love, 3 Staffeln
  • Friends From College, 2 Staffeln
  • American Vandal, 2 Staffeln
  • Sense 8, 2 Staffeln
  • Marco Polo, 2 Staffeln
  • Haters Back Off, 2 Staffeln

Der größte Block umfasst Serien, die schon nach einer Staffel beendet wurden, etwa Girlboss, Everything Sucks, Gypsy, Disjointed und Good Cop, fast genauso viele endeten nach 2 oder 3 Staffeln, wie Santa Clarita.

Das ergibt noch lange keine in Stein gemeißelten Gewissheiten, lässt aber doch mehr oder weniger sichere Prognosen über die Lebensdauer einer Netflix-Serie zu.

Serien mit bestimmten Merkmalen setzt Netflix besonders häufig ab

Wenn wir uns die abgesetzten Serien genauer anschauen, verengt sich das Bild. Netflix verlängert eher Serien, die aus ihrer abgegrenzten Fanbase ausbrechen konnten. Etwa Award-Lieblinge wie GLOW (3 Staffeln), Unbreakable Kimmy Schmidt (4 Staffeln) und die Langläuferin Orange Is the New Black (bald 7 Staffeln und ein Spin-off).

Der Bestfall ist Stranger Things (aktuell 3 Staffeln), eine der wenigen Netflix-Blockbuster-Serien, die mit jeder Staffel aus sich heraus für sich selber wirbt und Teil des Serien-Mainstreams ist.

Serien, die Aufmerksamkeit generieren, leben länger

Eine Serie muss also über ihre Fanbase hinaus Strahlkraft im großen, bunten Serienzirkus besitzen und neue Abonnenten anlocken. Sonst ist sie Netflix nichts wert. Serien, die schon 2 bis 3 Staffeln laufen, aber nur innerhalb eines kleinen Fankreise geschaut werden, haben kaum Chancen auf eine lange Laufzeit, siehe Santa Clarita.

Neue Netflix-Serien sind wertvoller als alte

Stranger Things

Die Entscheidungskritierien sind im Detail noch etwas komplizierter. Sichtbar gemacht hat sie ein Bericht von Deadline , der bei Netflix Mäuschen spielte. Er stützt sich auf anonyme Insider-Quellen. Die Netflix-Internas bestätigen dabei Vermutungen, die wir schon vor Jahren über das Absetzverhalten von Netflix aufgestellt haben.

Das sind die wichtigsten Überlieferungen des Berichts:

  • Eine Serie mit 30 Episoden (also 3 Staffeln) erfüllt für Netflix den besten Kosten-Nutzen-Faktor. Dieser wird demnach aus Nutzer-Daten abgeleitet. So zieht eine Serie wie One Day at Time nach ihrer 2. oder 3. Staffel keine neue Abonnenten mehr an.
  • Und selbst wenn: Nutzern, die eine neue Serie entdecken, genügen 30 Episoden für einen Binge-Marathon. Jede Staffel oder Episode darüber hinaus erfüllt keinen zählbaren Wert für Netflix, der sich in Nutzerwachstum oder ähnlichem niederschlägt.
  • Nutzer interessieren sich nicht länger als 2 bis 3 Staffeln für eine Serie, selbst wenn sie sie von Beginn an verfolgt haben.
  • Als wenn das nicht genug Gründe wären: Angeblich werden Netflix-Serien nach der 3. Staffel teurer in der Produktion - das Ergebnis eines verworrenen Vertriebs-Deals.

Das harte Netflix-Gesetz

Ab der 3. Staffel braucht Netflix also handfeste Gründe, um eine Serie fortzusetzen. Weil es die aber nicht immer gibt, läuft die typische Netflix-Serie 3 Staffeln mit je 10 Episoden. Den Spielraum, eine Serie aus Spaß an der Freude fortzusetzen, hat Netflix nicht, da es hauptsächlich vom Geld seiner Investoren lebt. Es ist verpflichtet, das geliehene Geld bestmöglich einzusetzen.

Netflix siebt Serien schon früh aus

Gegenüber Variety  gab der Netflix-CEO an, das Absetzen von Serien nicht zu genießen, was ihm auch niemand unterstellte, nebenbei bemerkt. Er fühlt sich vielmehr den Kunden verpflichtet: "Manchmal ist [das Weiterführen einer schwachen Serie] keine gute Verwendung für das Geld der Kunden."

Bei der Serien-Chefin Cindy Holland klingt das anders. Aus dem Geld der Kunden wird das Geld der Investoren: "Wir versuchen, das Beste aus dem Geld unserer Investoren zu machen. Es ist ihr Geld, nicht unseres."

Aber es bedeutet letztlich dasselbe: Eine Netflix-Serie muss Werte schöpfen. Netflix will Serien, die das nicht tun, früh erkennen. Netflix spekuliert über Entwicklungen und das zieht harte, manchmal nicht nachvollziehbare Entscheidungen nach sich, wie die gegen Everything Sucks.

Das Aussieben beginnt schon mit der ersten Staffel. Dem Hollywood Reporter  verriet Cindy Holland, eine spezielle Technologie könne Netflix sehr früh sehr genau vorhersagen, ob eine Serie den Erwartungen gerecht wird oder nicht. Nach 28 Tagen, um genau zu sein.

Das ist in etwa der Kern der harten Absetzpolitik bei Netflix, die wir in den letzten Monaten so deutlich zu spüren bekamen. Die Folgen davon beobachten wir ebenfalls schon.

Netflix stellt das Konzept Serie infrage

Game of Thrones

Dass zunächst schwache Serien wachsen können, auch nach ihrer 1. Staffel, will Netflix-Content-Chef Ted Sarandos in der Variety  gar nicht leugnen. "Es passiert, aber es ist nicht üblich." Nur die Möglichkeit schließt Netflix von Beginn an aus, weil es sich eher auf Kalkulationen und errechnete Prognosen verlässt.

Von 33 seit 2013 veröffentlichten Dramaserien schafften es so bisher nur Orange is the New Black und House of Cards auf 6 Staffeln oder mehr.

So höhlt die Absetz-Politik die Idee des Erzählformats Serie aus. Serien müssen bei Netflix auch nach ihrer 3. Staffel wachsen. Dass eine Serie während ihrer Laufzeit Zuschauer verliert, ist allerdings vollkommen normal, sofern sie nicht gerade Game of Thrones heißt. Selbst The Walking Dead, eine der populärsten und am längsten laufenden Serien weltweit, büßt ständig Zuschauer ein.

Solche auf mehrere Staffeln angelegten Serien gibt es bei Netflix derzeit kaum. Warum sollten Autoren überhaupt noch komplexe Geschichten über 4, 5 oder 6 Staffeln entwerfen, wenn vor ihrer Nase ständig Serien nach 3 Staffeln abgesetzt werden. Eine Idee, die eine Serie über maximal drei Staffeln trägt, genügt Netflix.

Die Folge: Es sprießen ständig neue kleine Serien aus dem Boden, die bei Netflix auf fruchtbaren Boden fallen. Zuschauer, die immer früher das Interesse an einer Serie verlieren, werden so zur selbst erfüllenden Prophezeiung.

Welche Serien schaut ihr seit mehr als drei Staffeln?

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